Das Thema der psychischen Störungen ist seit langem Gegenstand kultur- und geschichtswissenschaftlicher Forschung: Im Zusammenhang mit dem anhaltenden Trend einer historischen Anthropologie in der Mediävistik gehören Themen wie Melancholie, Krankheit und Körper [1] zu den vielbeforschten Bereichen der letzten Jahre und werden perspektivisch ergänzt durch die sich nun auch für die Vormoderne etablierenden Disability-Studies. [2] Nach wie vor einschlägig auch für neuere Forschungsbeiträge über psychische Störungen in der Vormoderne ist dabei Michel Foucaults "Wahnsinn und Gesellschaft" [3] mit seinen Fragen nach der kulturellen Konstruktion von Wahn und den sozialen Praktiken des Umgangs damit.
Auch die Herausgeberinnen des Bandes "Mental (Dis)Order in Later Medieval Europe" beziehen sich auf Foucaults Studie und greifen daraus die Vorstellung von der liminalen Positionierung des "madman", konzeptionalisiert im Bild des auf dem Narrenschiff navigierenden Narren, für ihre Fragestellung auf: Ausgehend von einem sozial fokussierten Störungsbegriff, der psychische Ordnung und Störung als soziale Kategorie und in sozial vermittelter Interaktion definiert [4], will die Publikation anhand von Fallstudien mittelalterliche Konzeptionen psychischer Störungen aufzeigen, wobei die Darstellung sowie Fragen insbesondere nach Umgang mit und Haltung gegenüber Devianz und Liminalität im Vordergrund stehen. Dabei ist es erklärtes Ziel des Bandes, die trennende Linie zwischen "order" und "disorder" aufzuzeigen: "The common theme, however, for all the chapters is the intention to define the dividing line between order and disorder". [5] Hierzu durchschreitet der Band, der auf ein 2011 in Schweden veranstaltetes Symposium zurückgeht, in zehn englischen Beiträgen ein Panorama der psychischen Störungen vom 13. bis 16. Jahrhundert und nimmt dazu Beispiele des europäischen Raums - vor allem auch Skandinaviens - in den Blick. Die Untersuchungsgrundlage der Beiträge bildet gelehrtes lateinisches wie auch volkssprachliches Schrifttum, das von medizinischen Schriften (Traktate, Consilia) und theologischen Texten über Exempla, Wunderberichte bis hin zu Chroniken reicht, sowie bildliche Darstellungen. Im Querschnitt der Beiträge zeichnen sich folgende thematische und methodische Schwerpunkte ab:
1. Der Zielsetzung des Bandes gemäß zeigen die Beiträge, dass es sich bei mentalen Störungen vor allem um soziale Störungen handelte: So stellt Sari Katajalaa-Peltomaa anhand von Kanonisierungszeugnissen des 13. und 14. Jahrhundert heraus, dass Besessenheit keine physische oder biologische Tatsache, sondern ein sozial konstruiertes Phänomen war, und zeigt Marko Lamberg am Beispiel schwedischer Exempla, dass Zorn nicht nur das Verhältnis zwischen Gott und Mensch störte, sondern vor allem das zwischen dem einzelnen und der Gemeinschaft. Anstelle einer moralischen Bewertung oder Verurteilung der Betroffenen und deren deviantem Verhalten weisen die untersuchten Quellen vielmehr den Bedarf nach einer Kategorisierung und nach klaren Zeichen auf, wann der Betroffene als geheilt und vor allem als in die Ordnung re-integrierbar anzusehen war, und standen Maßnahmen zur Herstellung der sozialen Ordnung im Vordergrund. Mentale Störungen erwiesen sich damit besonders gesellschaftlich wie auch politisch als bedeutsam: Verbunden waren nicht nur juristische Fragen nach Eigentums- und Machtverhältnissen, sondern auch Probleme royaler Herrschaftsausübung, wie die auf Contentamento abzielende Diätetik des Königs Duarte von Portugal zeigt (Iona Mc Cleery).
2. Bei der Frage nach spätmittelalterlichen Erklärungsmöglichkeiten für die Entstehung mentaler Störungen weist der Band die Bedeutung traditioneller Diskurse und Beschreibungsmuster aus: Im Medizinischen dominierend war die Säftelehre, wie der Beitrag von Timo Joutsivuo am Beispiel eines präskriptiven Textes des Arztes Taddeo Alderotti aus dem 13. Jahrhundert gegen die als Melancholie diagnostizierte Schlaflosigkeit des Marquis de Ferrara Obizzo II d'Este herausarbeitet, während Kirsi Kanerva am Beispiel der Angst vor den "Living Dead" in isländischen Sagas das traditionelle Spektrum von Beschreibungsmustern anhand der Vorstellung vom Herzen als je nach Störungsgrad in Größe und Blutmenge anatomisch variabel vorgestelltem "mind-organ" zu ergänzen vermag. Als weiterer zentraler Begründungszusammenhang erscheinen der religiöse Kontext und der Dämonenglaube. Dabei zeigt der Beitrag von Catherine Rider anhand spätmittelalterlicher Medizinkompendien, dass der Glaube an Dämonen die Möglichkeit bot, die Entstehung mentaler Störungen durch den Einfluss externer Faktoren, wie zum Beispiel in den Körper eingefahrene Dämonen oder das Trinken von durch Dämonen vergiftetem Wasser, zu begründen. Der Beitrag von Gerhard Jaritz zu bildlichen Darstellungen von psychischen Störungen veranschaulicht die Verwendung von Darstellungsstereotypen wie spezifischen Gesichtsausdrücken und Nacktheit. Bei den Kur- und Therapieformen finden sich in Entsprechung zu den angenommenen Entstehungsweisen ein Nebeneinander gängiger Interventionsmaßnahmen wie Exorzismen und religiöse Heilung sowie die Bedeutung der Temperantia (Mc Cleery, Joutsivuo) und die persönliche Kontrolle, wie dies der Beitrag von Marko Lamberg am Beispiel der Thematisierung von Zorn zeigt. Dabei scheint insbesondere die in den Quellen aufscheinende Reflexion und Selbstthematisierung der aus deviantem Verhalten resultierenden Gefährdung, wie sie zum Beispiel durch Melancholie oder exzessiven Weinkonsum (Jussi Hanska) bewirkt werden konnte, als bemerkenswert.
3. Auf die Bedeutung einer genderspezifischen Determinierung bei der Konzeptionalisierung psychischer Störungen verweisen gleich mehrere Beiträge: So erweist sich Zorn als spezifisch weibliche Sünde (Marko Lamberg), wurde der weibliche Körper als besonders anfällig für das Eindringen von Dämonen gesehen (Sari Katajalaa-Peltomaa) und wurden gleiche Störungsformen je nach Geschlechtszugehörigkeit bildlich unterschiedlich dargestellt (Gerhard Jaritz).
4. Mit dem Frageschwerpunkt des Bandes nach der besonderen Rolle und Funktion der unterschiedlichen Praktizierenden wie auch deren räumlicher Verortung wird die besondere Bedeutung der Dörfer und Städte herausgearbeitet, wie der Beitrag von Susanna Niiranen am Beispiel okzitanischer und schwedischer Rezeptsammlungen zeigt. Neben der bedeutenden Rolle von Ärzten und Heilern aus dem gelehrten und laikalen Bereich für die Diagnostik und Behandlung psychischer Störungen stellt der Band die große Bedeutung der sozialen Gemeinschaft heraus, die über Konsensbildung agierte. Besonders deutlich wird durch die analysierten Quellen die Rolle des familiären Umfelds, das im Umgang mit der Fachliteratur, bei der Bestimmung der Symptome sowie der Pflege zum Handeln aufgerufen war.
Fazit: Mit der Frage nach Konzeptionalisierungen mentaler Störungen im Spätmittelalter greift der Band einen Begriff auf, der bereits in der modernen Begrifflichkeit von wechselnden Perspektiven geprägt ist [5] und in Medizin, Sozialgeschichte, Psychologie und Psychiatrie kontrovers diskutiert wird - ein Befund, der umso mehr für das begriffliche Oszillieren in der Vormoderne zutrifft. So kann es kaum verwundern, dass auch das erklärte Ziel des Bandes, die trennende Grenze zwischen "order" und "disorder" aufzeigen zu wollen, nicht recht eingelöst wird. Vielmehr wird deutlich, dass - selbst wenn die Quellen ein Bedürfnis nach deutlicher Unterscheidung zeigen - auch im spätmittelalterlichen Kontext eher von Überlappungen und fließenden Grenzen bei der Konzeptionalisierung und dem Umgang mit deviantem Verhalten zu sprechen wäre. Die thematische Spannbreite des Bandes zeigt so, dass sich das weite Feld psychischer Störungen durch einen Bereich der Liminalität auszeichnet: Lamberg spricht in seinem außerordentlich instruktiven Beitrag auch von Zorn als "a liminal state, a risk zone" (88). Hier angesetzt, ergibt sich in der Tat das angestrebte komparatistische Potenzial des Bandes, der vor dem Hintergrund vormoderner Alterität auch Vergleichspunkte zu modernen Konzepten zu liefern vermag.
Dieser sorgfältig erstellte Band, dessen Benutzbarkeit auch für eine erste Orientierung in der Thematik durch eine breit angelegte Einleitung und ein ausführliches Literaturverzeichnis erleichtert wird, löst das erklärte Ziel, ein Panorama der Thematik bieten zu wollen, durchaus ein und gewinnt im Forschungszusammenhang durch die Ausdehnung seines Untersuchungsbereichs auf den skandinavischen Raum. Damit ist er guter Ausgangspunkt für weitere Forschungen, wie zum Beispiel auch mögliche literaturwissenschaftliche Analysen, die an narrativen Mustern und der spezifischen Verwendung von Textsorten ansetzen und nach der Literarizität der Darstellungen fragen könnten. Ausgehend von einem historischen Untersuchungsinteresse ist "Mental (Dis-)Order in Later Medieval Europe" ein wichtiger Beitrag und zu weiteren Fragestellungen anregend für alle, die sich mit dem Thema der psychischen Störungen im Spätmittelalter beschäftigen wollen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. u.a. Kay Peter Jankrift: Krankheit und Heilkunde im Mittelalter, Darmstadt 22002; Florian Steger / Kay Peter Jankrift (Hgg.): Gesundheit - Krankheit. Kulturtransfer medizinischen Wissens von der Spätantike bis in die Frühe Neuzeit (= Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, Heft 55), Köln 2004; Jacques Le Goff / Nicolas Truong: Die Geschichte des Körpers im Mittelalter. Aus dem Französischen von Renate Warttmann, Stuttgart 2007; Karina Kellermann (Hg.): Der Körper. Realpräsenz und symbolische Ordnung. In: Das Mittelalter 8 (2003), Heft 1; Andrea Sieber / Antje Wittstock (Hgg.): Melancholie - zwischen Attitüde und Diskurs. Konzepte in Mittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen 2009 jeweils mit weiterführender Literatur.
[2] Vgl. Cordula Nolte (Hg.): Phänomene der "Behinderung" im Alltag. Bausteine zu einer Disability History in der Vormoderne (= Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters; Bd. 8), Affalterbach 2013 sowie die wissenschaftlichen Initiativen des Arbeitskreises "Homo Debilis" der Universität Bremen.
[3] Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen. Deutsche Ausgabe, im Einverständnis mit dem Autor geringfügig gekürzt (=Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft; Bd. 39), Frankfurt am Main 81989; Anne Waldschmidt / Werner Schneider (Hgg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, Bielefeld 2007, 55-78.
[4] "Mental order and disorders are observed as cultural categories adopted through or embodied in social interaction." (2)
[5] Zum Begriff und seiner Problematisierung vgl. den Überblick bei Jerome Wakefield: The Concept of Mental Disorder. On the Boundary Between Biological Facts and Social Values, in: American Psychologist 47 (1992) 373-374, 381-388. In Übersetzung abgedruckt in: Krankheitstheorien (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft; Bd. 2011), hg. v. Thomas Schramme, Berlin 2012, 239-262.
Sari Katajala-Peltomaa / Susanna Niiranen (eds.): Mental (Dis)Order in Later Medieval Europe (= Later Medieval Europe), Leiden / Boston: Brill 2014, X + 285 S., 13 Farb-Abb., ISBN 978-90-04-26414-4, USD 149,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.