sehepunkte 15 (2015), Nr. 9

Mirosław Sikora: Die Waffenschmiede des "Dritten Reiches"

Die Untersuchungen zur deutschen Rüstungspolitik und Rüstungswirtschaft im Zweiten Weltkrieg auf der Ebene der Spitzeninstanzen dürften inzwischen einige Regalmeter füllen. Unter einer breiten Einbindung des aktuellen Forschungsstandes veröffentlichte zuletzt 2007 der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze ein umfangreiches und ausgezeichnetes Werk zur Thematik. [1] Die Anzahl der Studien zur Rüstungswirtschaft auf regionaler Ebene und für den Bereich der Mittelinstanzen ist demgegenüber verschwindend gering. Unter ihnen sticht die von Roland Peter verfasste Studie zur Rüstungspolitik in Baden hervor, in welcher der Einfluss des geopolitischen Faktors auf "die ökonomische Lage eines Grenzlandes im 'Dritten Reich'" und somit die Konflikte zwischen Zentrum und Peripherie untersucht werden. [2] Eine hinsichtlich ihrer Lage ähnlich peripher gelegene Region hat sich der polnische Historiker Mirosław Sikora zum Ausgangspunkt seiner Analyse genommen. Sein Interesse gilt dabei weniger den Entscheidungsoptionen der regionalen Eliten von Rüstungsbürokratie, Unternehmen und Partei in einem scheinbar streng hierarchischen "Führerstaat". Sikora legt seinen Schwerpunkt für das im kollektiven Gedächtnis als "Ruhrrevier des Ostens" (138) verhaftete Oberschlesien auf die konkrete Höhe der Produktion von Rüstungsgütern zwischen 1939 und 1945. Ein diffiziles methodisches Instrumentarium ist für eine solche quantitativ ausgerichtete Untersuchung gewiss nicht notwendig. Dennoch wäre es für den Leser hilfreich gewesen, die Untersuchung mit einer einleitenden Fragestellung bzw. These zu verbinden, die über eine rein quantitative Analyse hinausgeht und eine gewisse Orientierung bietet.

Die Untersuchung Sikoras ist in fünf thematische, in sich chronologische Kapitel aufgeteilt. Das erste Kapitel gibt einen Überblick über die Spitzenorganisation der deutschen Kriegswirtschaft und den sich vollziehenden Wechsel in der Führung vom militärischen auf den zivilen Primat unter Fritz Todt und Albert Speer. In diesem Kontext verweist Mirosław Sikora auf den polykratischen Charakter der NS-Rüstungspolitik und macht die unmittelbaren, nachteiligen Folgen der Auseinandersetzungen zwischen Ministerialbürokratie, Partei und Wehrmacht in Berlin für die Situation vor Ort deutlich. In seiner Beschreibung folgt er dabei den schon etwas in die Jahre gekommenen Untersuchungen zur deutschen Rüstungswirtschaft, die den Schwerpunkt auf deren bürokratisches Chaos, Inflexibilität sowie personelle und materielle Unterlegenheit gegenüber den Alliierten legten, die Frage nach der Effizienz der NS-Kriegswirtschaft jedoch weitestgehend unbeantwortet ließen.

Das zweite Kapitel behandelt die wirtschaftliche und administrative Eingliederung Ostoberschlesiens, das mit der Volksabstimmung von 1922 an Polen gefallen war, in den deutschen Herrschaftsbereich im Herbst 1939. Die Lage an der Peripherie sowie konkurrierende bzw. konträre Interessenlagen von Wehrmacht, Industrie, Gauleitung und der regionalen Administration verhinderten vorerst umfangreiche Investitionen. Mirosław Sikora deutet dabei regionale Eigenwilligkeiten örtlicher Parteistellen an. Diese zeichneten sich wiederholt durch Initiativen zum Schutz der lokalen Industrie aus, die den Befehlen "von oben" zuwider liefen. Leider gibt der Autor dafür keine Quellen an (94).

Die zentralen Aussagen seiner Untersuchung liefert Sikora im dritten Teil, in dem die Bedeutung des oberschlesischen Industriereviers für die Kriegswirtschaft des "Dritten Reiches" beleuchtet wird. Hier kommt er zu dem Ergebnis, dass die entscheidenden Nachteile Oberschlesiens als Rüstungsstandort die geographische Lage sowie der qualitativ unterentwickelte Stand von Infrastruktur, Unternehmen und Arbeitskräften gewesen seien. Erst die Auswirkungen des Bombenkrieges in den westlichen Rüstungszentren hätten ab Anfang 1943 eine massive Rüstungsverlagerung nach sich gezogen, die nicht zuletzt auch zu erheblichen Spannungen mit den ortsansässigen Betrieben um die beschränkten Ressourcen geführt hätten. Auf Grundlage der Verlagerungen avancierte das oberschlesische Industrierevier bis zum Sommer 1944 in einigen Bereichen der Munitions- und Waffenproduktion zu einem Standort von zentraler Bedeutung für die deutsche Rüstungswirtschaft.

Leider verlässt Sikora zu selten die rein deskriptive Ebene. Zu häufig wird, wie im vierten Kapitel, detailliert die Produktionsentwicklung einzelner Munitionstypen und Waffensysteme behandelt, der Leser mit nicht enden wollenden Zahlenkolonnen, Grafiken und Statistiken konfrontiert. Eine klare Einordnung der vermittelten Informationen fällt dabei bisweilen schwer, da sie nicht immer ausreichend in den Kontext eingebunden werden und keine weitere Erläuterung erfahren.

Im fünften und kürzesten Kapitel seiner Untersuchung thematisiert der Autor das letzte Jahr des oberschlesischen Industriereviers und arbeitet heraus, dass vor dem Hintergrund der sich nähernden "Ostfront" eine Räumung seit Sommer 1944 geplant wurde. Der Mangel an alternativen Standorten in Verbindung mit dem eintretenden Produktionsausfall verhinderte jedoch eine Verlagerung. Stattdessen wurde bis zur Besetzung durch die Rote Armee der Produktionsausstoß direkt an die Front geliefert.

Sikora gelingt eine grundlegende Darstellung der Entwicklung der oberschlesischen Rüstungsindustrie auf Basis einer erstmaligen Zusammenführung der deutschen sowie polnischen Forschungsergebnisse und bietet damit weiteren Untersuchungen einen Ausgangspunkt. Der Autor recherchierte grenzübergreifend umfangreiches Aktenmaterial deutscher und polnischer Provenienz. Vor allem die Dokumente der oberschlesischen Unternehmen sowie des Geheimdienstes der polnischen Heimatarmee bieten in diesem Kontext gegenüber den Unterlagen der staatlichen Rüstungsbürokratie eine nutzbringende Alternativüberlieferung. Einen transparenten Zugang zu den Ergebnissen ermöglicht dabei der umfangreiche Anhang, in dem vor allem das Personen-, Orts- und Firmenregister hervorsticht. Dennoch: Sikora verlässt zu selten seine quantitative Perspektive und bietet keinen komparativen Blickwinkel auf andere Regionen des Deutschen Reiches. Eine dezidierte Fragestellung wäre in diesem Zusammenhang hilfreich gewesen und hätte tiefer gehende Aussagen ermöglicht.


Anmerkungen:

[1] Adam Tooze: Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München 2007.

[2] Roland Peter: Rüstungspolitik in Baden. Kriegswirtschaft und Arbeitseinsatz in einer Grenzregion im Zweiten Weltkrieg, München 1995, 2.

Rezension über:

Mirosław Sikora: Die Waffenschmiede des "Dritten Reiches". Die deutsche Rüstungsindustrie in Oberschlesien während des Zweiten Weltkrieges (= Bochumer Studien zur Technik- und Umweltgeschichte; Bd. 3), Essen: Klartext 2014, 591 S., ISBN 978-3-8375-1190-1, EUR 39,95

Rezension von:
Paul Fröhlich
Universität Potsdam
Empfohlene Zitierweise:
Paul Fröhlich: Rezension von: Mirosław Sikora: Die Waffenschmiede des "Dritten Reiches". Die deutsche Rüstungsindustrie in Oberschlesien während des Zweiten Weltkrieges, Essen: Klartext 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 9 [15.09.2015], URL: https://www.sehepunkte.de/2015/09/26863.html


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