Britta Schilling wendet sich mit "Postcolonial Germany. Memories of Empire in a Decolonized Nation" gegen die bis dato häufig vertretene Ansicht, Deutschland leide an "colonial amnesia". Ihre Studie setzt historisch unmittelbar nach dem offiziellen Verlust der deutschen Kolonien 1919 ein und verfolgt die koloniale Erinnerung der Deutschen über die Weimarer Republik, die NS-Zeit, die beiden deutschen Staaten bis zur Wiedervereinigung und im Bereich von Familienerinnerungen bis in die Gegenwart.
Theoretisch stützt sie sich auf die gängigen Erinnerungstheorien (Halbwachs, Assmann), die sie für ihren Kontext auf Unterschiede zwischen "public" und "private" hin fokussiert. Dabei unterstreicht sie die Bedeutung der Materialität von mnemonischen Artefakten für die Erinnerungsarbeit. Methodisch verortet sich die Arbeit im transdisziplinären Raum zwischen Kultur-, Literatur und Geschichtswissenschaft. Sie hat sich sowohl mit Texten (aus Archiven oder veröffentlicht), mit Artefakten, besonders Fotografien, und Erzählungen beschäftigt.
Die Arbeit ist chronologisch aufgebaut und gliedert sich in sechs Hauptkapitel. Gemäß ihrem Ansatz, die Materialität der Erinnerung in den Fokus zu setzen, widmet sich jedes dieser Kapitel einem anderen Gegenstand.
Für die Zeit von 1915 bis 1925 wird das "Afrikabuch" betrachtet - ein Genre, das sie selbst definiert, womit gemeint ist: autobiografische Erinnerungsliteratur der ehemals in den Kolonien lebenden Deutschen. Für die Zeit von 1925-35 beschäftigt sie sich mit bislang von der Forschung nicht beachteten "Kolonialbällen". Als materielle Objekte hebt sie die dort verkauften Kolonialwaren, wie Bananen, Kaffee und Kakao hervor. Als besonders interessant erweist sich die Beobachtung, dass in diesem Zusammenhang die Oberschicht den Jazz für sich entdeckte, allerdings ausschließlich als "deutschen" Jazz und mit deutschen Darstellern und Tänzern, die mit "blackface" auftraten. Dies ermöglichte, so Schilling, am neuen Stil zu partizipieren, allerdings auf eine - in einer rasseideologischen Lesart - sozial unbedenkliche Art.
Die NS-Zeit wird über das Schulbuch erschlossen, während die Zeit von 1949-1968 mittels einer Analyse der Staatsgeschenke sowohl der BRD als auch der DDR an die unabhängig gewordenen ehemaligen deutschen Kolonien (Kamerun, Togo, Ruanda, Burundi, Tanganyika/Tanzania und unter besonderen Bedingungen Namibia) betrachtet wird. Schilling greift hier auf bis dato von der Forschung nicht ausgewertete Akten des Auswärtigen Amtes zurück. Die Zeit von 1968 bis 1990 markiert sie als eine materielle Leerstelle: "the empty plinth", der leere Sockel, von dem die Denkmalstürzer die kolonialen Statuen gestürzt hätten. Kontrafaktisch ziert die indes niemals gestürzte Wissmannstatue aus Bad Lauterberg das Cover ihres Buches. Abschließend konzentriert sie sich auf die privaten Erinnerungen in von ihr interviewten "Kolonialfamilien". Die entsprechenden Interviews wurden 2007 geführt und reichen somit bis in die Gegenwart.
Die Arbeit bietet nicht nur eine Chronologie, sondern auch - trotz aller Überschneidungen und Diskontinuitäten - eine Genealogie der kolonialen Erinnerung an: Von 1919 bis 1925 wird von einer kleinen Gruppe eine hegemonische Erinnerung an den deutschen Kolonialismus im Medium des Afrikabuches wachgehalten, die während der Zeit von 1925 bis 1935 über die Kolonialbälle und die Kolonialwaren weiter popularisiert wird. In der NS-Zeit wird die Erinnerung an den deutschen Kolonialismus schließlich offizielle öffentliche Politik und in weite Bevölkerungskreise transportiert. Die Afrikapolitik der beiden deutschen Staaten ab 1949 nahm von unterschiedlichen Positionen ihren Ausgang. Die DDR sah sich nicht in der Nachfolge des imperialen Deutschland, wurde aber in den diplomatischen Beziehungen mit den ehemaligen deutschen Kolonien mit diesem Vermächtnis konfrontiert und positionierte sich explizit. Die BRD zeichnete eine eklatante Kontinuität in hohen politischen Ämtern aus, die weiterhin Männer besetzten, die in der Kolonialbewegung aktiv gewesen waren. Daraus folgten auch in Rhetorik und Praxis koloniale Anklänge.
In den 1960er Jahren gelang es auch afrikanischen Politikern aus den nun unabhängigen ehemaligen deutschen Kolonien die Erinnerung an die deutsche Kolonialvergangenheit als strategisches Argument für ihre Ziele einzusetzen. Dies führt Schilling in ihrer lesenswerten Analyse zwar an mehreren Stellen breit aus, greift das Thema aber leider in der Zusammenfassung nicht wieder auf. Die Kritik afrikanischer Politiker an der kolonialen Rhetorik und der deutschen Südafrikapolitik wird ebenfalls nicht erwähnt.
Einen Wendepunkt macht sie - wie bereits einige andere vor ihr - in der kolonialkritischen Fernsehsendung "Heia Safari" aus, die sie aber selbst kaum vorstellt. In der Studentenbewegung der 1968er Jahre betont sie den Anti-Imperialismus, der sich jedoch kaum explizit auf die deutsche Kolonialvergangenheit bezog. Dagegen unterstreicht Schilling das Wirken der Denkmalsturzbewegung. Die Monumente als materielle Erinnerungsorte verschwanden aus der Öffentlichkeit und hinterließen eine Leerstelle. Der Kolonialismus, so Schilling wurde somit aus dem öffentlichen Raum entfernt, obwohl er, so ihr Argument weiter, nie völlig absent war. Angesichts der von ihr auch vorgestellten Denkmalsumwidmung des Bremer Elefanten in den 1980er Jahren und des singulären Aktes des Denkmalsturzes der Wissmannstatue vor der Hamburger Universität, gibt es hier sicherlich noch Differenzierungsmöglichkeiten.
Der innovativste Teil der Arbeit, die Erinnerungen der verschiedenen Generationen von deutschen "colonial families" steht etwas quer zur Chronologie. Ihre Interviews führte Schilling im Jahr 2007, und besonders im Falle der Familie Trotha, waren sie deutlich durch die öffentliche Aufmerksamkeit in Deutschland und Namibia im Jahr 2004 für das hundertjährige Gedenken an den Hererokrieg und die Debatten um den versuchten Völkermord gekennzeichnet. Britta Schilling zeigt, dass die Familie Trotha - im Gegensatz zur Familie Wissmann - erst über die Konfrontation mit diesen Ereignissen sich mit ihrer kolonialen Familiengeschichte auseinandersetzte. Die Familienarchive, die neben den Anekdoten auch aus materiellen Objekten, wie Ethnographica, Fotografien und Tagebüchern bestehen, seien vielschichtig und bewegten sich in einer Matrix zwischen "pride and guilt". Hier kann Schilling auf die Parallelen zur NS-Zeit hinweisen.
Sie kommt zu dem Schluss, dass es die privaten Erinnerungen von wenigen sind, die die koloniale Erinnerung in Deutschland bestimmen, vor allem weil es weder eine offizielle deutsche koloniale Erinnerungspolitik gebe, noch materielle Spuren im öffentlichen Raum präsent seien.
Indem Schilling in ihrem Schlusskapitel die deutsche Erinnerung an den Kolonialismus mit der anderer europäischer Kolonialstaaten (England, Frankreich, Italien, Niederlande) vergleicht, kann sie zeigen, dass eine Phase des Nicht-Erinnerns typisch ist. Überzeugend argumentiert sie mit Ann Laura Stoler, dass es sich dabei nicht um "Amnesie" sondern um "Aphasie" handle. "Aphasia is not straightforward forgetting, but rather 'dismembering', a difficulty speaking, a difficulty generating a vocabulary that associates appropriate words and concepts with appropriate things" (202). Während sie allerdings besonders für Frankreich zeigt, wie sich die koloniale Erinnerung in bestimmten Gruppen auch in einer rassifizierten Weltwahrnehmung und politischen Sprache niederschlägt, tut sie dies für Deutschland nicht, was vielleicht ein lohnenswertes Unterfangen gewesen wäre.
Das Buch bündelt die bisherige Forschung zur deutsch-kolonialen Erinnerung. Darüber hinaus erschließt Schilling drei neue Bereiche: den Kolonialball der 1920er und 1930er Jahre, die Staatsgeschenke zur Unabhängigkeit der ehemaligen deutschen Kolonien und die materiellen und mündlichen Erinnerungen in deutschen Kolonialfamilien.
Methodisch und systematisch bleibt die Frage, ob die Zäsuren in ähnlicher Weise hervorgetreten wären, wenn stets der gleiche Gegenstand analysiert worden wäre. Beispielsweise macht sie die TV-Sendung "Heia Safari" stark, bezieht weitere Dokumentarfilme zur deutschen Kolonialgeschichte (ab den 1980er bis in die 2000er Jahre gab es Dutzende davon) nicht mit ein. Auch die Kontroversen um koloniale Spuren im öffentlichen Raum, wie um die sogenannten Askari-Reliefs in Hamburg, das Franke-Denkmal in Düsseldorf und die diversen Straßenumbenennungsinitiativen, erwähnt sie nicht.
Am Ende formuliert Schilling mögliche Ergänzungen ihrer Arbeit, namentlich die Erinnerung in den ehemaligen deutschen Kolonien selber, zu der, wie sie anführt, bereits einige Forschung vorliegt; gleichermaßen akzentuiert sich das Forschungspotenzial, das Familienerinnerungen bieten, beispielsweise die afro-deutscher Familien, oder, so möchte ich hinzufügen, die weißer deutscher Personen oder Familien, die freundschaftliche Kontakte mit Afrikanerinnen und Afrikanern während der deutschen Kolonialzeit unterhielten.
Insgesamt handelt es sich um ein anregendes Buch, dem es auf hohem Niveau gelingt, die These von der kolonialen Amnesie im postkolonialen Deutschland zu widerlegen.
Britta Schilling: Postcolonial Germany. Memories of Empire in a Decolonized Nation (= Oxford Historical Monographs), Oxford: Oxford University Press 2014, XIV + 258 S., ISBN 978-0-19-870346-4, GBP 65,00
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