sehepunkte 16 (2016), Nr. 3

Uwe Danker: Volksgemeinschaft und Lebensraum: Die Neulandhalle als historischer Lernort

Die Wogen haben sich mittlerweile geglättet: Nach den intensiven Debatten der vergangenen Jahre liegen die Vor- und Nachteile der "Volksgemeinschaft" als Analysekonzept und Untersuchungsgegenstand auf dem Tisch. [1] Es ist daher höchste Zeit, nach den Erträgen der Forschung für Geschichtsunterricht und Gedenkstätten zu fragen. Was also bringt die "Volksgemeinschaft" als Lerngegenstand? Welche Perspektiven eröffnet dieser Lerngegenstand für einen kompetenzorientierten Geschichtsunterricht oder für außerschulische Lernorte?

Bislang ist das Konzept "Volksgemeinschaft" in geschichtsdidaktischen Veröffentlichungen und Gedenkstätten kaum zu finden. Bestenfalls wurde er als verkaufsfördernder "eye catcher" auf Buchdeckeln oder auf Covern von Ausstellungskatalogen genutzt. Konzeptuelle oder empirische Befunde hingegen sind nach wie vor selten. [2] Schon daher kommt Uwe Dankers Buch zum richtigen Zeitpunkt. Es spürt den Potenzialen eines besonderen Lernortes nach: der Neulandhalle in Schleswig-Holstein, auf dem ehemaligen "Adolf-Hitler-Koog" an der Nordsee. Schon diese Spurensuche ist erinnerungspolitisch stark aufgeladen. Gemeinsam mit Claudia Ruge ist Danker Verfasser einer "Machbarkeitsstudie" zur Nutzung der Neulandhalle als Lernort, der in Schleswig-Holstein stark umstritten ist. [3] Die jahrelangen Debatten um dessen Nutzung im Allgemeinen und um die Studie im Speziellen sind bei der Lektüre des Buches insofern immer wieder spürbar, nicht nur im geradezu kämpferisch formulierten "Rück- und Ausblick" (128ff.).

1935 wurde die Neulandhalle als Prestigeprojekt nationalsozialistischer "Lebensraum"-Politik eingeweiht: Als "Musterkoog" eröffnete die Landgewinnung eine Art Laboratorium für die Schaffung der "Volksgemeinschaft". Mit guten Gründen hebt Danker in diesem Zusammenhang die "Janusköpfigkeit" (68) dieses Projektes hervor. In der "Volksgemeinschaft" waren Inklusion und Exklusion untrennbar miteinander verwoben, wie sich an der Geschichte der Neulandhalle beobachten lässt. Die nationalsozialistische Landnahme an der Nordseeküste war ein sozialer Aushandlungs- und Ausgrenzungsprozess, dem im Übrigen auch drei Siedlerfamilien zum Opfer fielen. Darüber hinaus traten in der Siedlungsplanung klare Unterschiede zwischen den "Volksgenossen" zu Tage. Die "Volksgemeinschaft" war eben nicht jenes egalitäre Projekt sozialer Homogenisierung, als die sie mitunter immer noch missverstanden wird. Vielmehr arbeitet Danker jene Ungleichheiten und Unterschiede heraus, mit denen auch an der Nordseeküste nationalsozialistische Ordnung geschaffen werden sollte (29-32). Mit diesen Befunden zeigt sich Danker nicht nur auf der Höhe des Forschungsstandes. Zugleich unterstreichen sie das Potenzial dieses Lernortes als Fallstudie vor Ort. Ein weiteres Potenzial ist das spezifische Amalgam aus "Volksgemeinschafts"- und "Lebensraum"-Ideologie. Schließlich stand die Landgewinnung auf dem "Adolf-Hitler-Koog" in einer langen Deutungstradition eines Kampfes gegen den "blanken Hans", dem fruchtbarer Boden mühsam abgerungen wurde. Dass dieses Ringen mit den Zielsetzungen der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen aufs Beste harmonierte, erklärt einmal mehr die Relevanz der Neulandhalle als nationalsozialistisches Prestigeprojekt.

Schon diese Ergebnisse unterstreichen die vielen Stärken des Buches und den Ertrag eines multiperspektivischen Zugriffes, der sich auch in der Gliederung niederschlägt: Danker schlüsselt mit seinen drei Hauptkapiteln die historische Dimension (Kapitel I), die gesellschaftliche Dimension (II) und die konzeptuelle Dimension der Neulandhalle als Lernort auf (III), wobei er immer wieder Verknüpfungen dieser drei Dimensionen deutlich macht. Dank dieser multiperspektivischen Anlage spricht das Buch unterschiedliche Leser an. Fachwissenschaftler finden hier ebenso Anregungen wie Geschichtsdidaktiker oder Lehrer. Das gilt umso mehr, weil der Band mit seinen immerhin 73 Abbildungen zahlreiche Quellen präsentiert. Anhand der Neulandhalle macht Danker somit wie unter einem Brennglas die "Volksgemeinschaft" als "Verheißung" und lokales Ordnungsprojekt sichtbar. Er zeichnet dabei jene Mixtur aus "völkischer", kulturkritischer Antimoderne mit Bauernkitsch und Blut-und-Boden-Ideologie nach, die die Neulandhalle zu einem besonderen Lernort macht. Darüber hinaus zeichnet Danker nach, dass die Neulandhalle eine Vor- und Nachgeschichte hat. Die tiefen Wurzeln nationalsozialistischer "Lebensraum"-Ideologie spielen folglich in dem ersten Kapitel eine tragende Rolle, während die Nachgeschichte der Halle seit 1945 vor allem in den konzeptuellen Überlegungen im Kapitel III als Ausstellungsobjekt fruchtbar gemacht wird.

Angesichts all dieser Stärken bleiben nur wenige Fragen offen. Konkretere Hinweise wünscht man sich stellenweise bei der Konzeption der Ausstellung. Aus geschichtsdidaktischer Perspektive wäre beispielsweise interessant, wie genau eine "Auslösung von Handlungsorientierung" (108) und "selbstgesteuerten historischen Lernens" (106) in den Ausstellungsräumen oder auf dem Außengelände gelingen soll. Auch zur erwünschten Differenzierung der Ausstellungselemente und des Begleitmaterials (107) für extrem unterschiedliche Besuchergruppen - von Wochenend-Touristen bis zu Schulklassen - läse man gern mehr. Die grundlegende "Ausstellungsphilosophie" (106), "für jeden soll etwas dabei sein" (107), klingt in diesem Zusammenhang zwar attraktiv, aber auch ein wenig allgemein.

Auch aus Perspektive der Museologie, die Danker für seine Studie fruchtbar macht (10), ließen sich zwei Punkte konkretisieren. Erstens bleiben zur Stellung der Exponate und zu ihrer Einbindung in das Gesamtkonzept Fragen offen. Einerseits betont Danker, dass "ihre Auswahl nach deren historischer Relevanz und ihrem pädagogischem Potenzial erfolgen, nicht aber von ihrer Verfügbarkeit geleitet sein" (112) sollte. Sehr gut nachvollziehbar wird dieses pädagogische Potenzial bei einzelnen Ausstellungsstücken wie jener Gedenktafel "Zu Ehren der Gefallenen des Zweiten Weltkriegs", die nach 1945 auch einige SS-Männer in Erinnerung hielt. Andererseits listet Danker zahlreiche Gegenstände wie Stühle, Tische, Kaminbesteck oder Messingleuchter auf, deren pädagogisches Potenzial und historische Relevanz zumindest kurz erläutert werden könnten (112f., 115, 123). Zweitens betont Danker die Bedeutung der Architektur als "authentische[s] Ambiente" (108) und die "Aura des Originals" (111), die zudem unterschiedliche "Nutzungsschichten" (120) der Neulandhalle - also die Nutzung in der NS-Zeit und nach 1945 - sichtbar mache. Gleichzeitig regt er Rekonstruktionen verschwundener Gebäudeteile und Ausstattungen als "affektive Ansprache" (116) der Besucher an, die somit "die Bestimmung des Ortes spüren können, vielleicht auch als Gesamteindruck die Symbolisierung einer Volksgemeinschaft sinnlich wahrnehmen" (115-116) sollen. Wie aber diese Kombination aus Dekonstruktion und Affektion genau umgesetzt und das "Spannungsfeld von Rekonstruktion, Konservierung, Verfremdung" erkundet werden kann, bleibt offen.

Diese Anmerkungen sind nicht so sehr als Kritik an dem Buch zu verstehen, als eine Folge des nach wie vor ungewissen Status quo seines Sujets. Danker setzt sich schließlich mit einem ungebauten Lernort auseinander, dessen Realisierung nach wie vor in den Sternen steht. Konkreter als die didaktische und museologische Konzeption wird Danker zudem bei der inhaltlichen Gestaltung der Ausstellung. Anhand der zwei titelgebenden Leitbegriffe "Volksgemeinschaft" und "Lebensraum" schlüsselt er sehr plausibel zehn relevante Themengebiete auf, mit denen die Neulandhalle tatsächlich spannende Tiefenbohrungen eröffnen könnte.

Im Gesamteindruck überwiegen daher die Stärken des Bandes. Mit seiner Konzeption der Neulandhalle als Lernort der "Volksgemeinschaft" betritt Danker durchaus Neuland. Zum einen bietet er Anregungen für eine intensivere Auseinandersetzung mit der "Volksgemeinschaft" in bundesdeutschen Gedenkstätten. Zum anderen fordert er eine Versachlichung der Vermittlung des Nationalsozialismus, um Bedürfnissen von Studierenden und Schülern im 21. Jahrhundert gerecht zu werden. Dankers Buch ist somit nicht nur ein wichtiger Beitrag zur geschichtsdidaktischen Auseinandersetzung mit der "Volksgemeinschaft" im Speziellen. Darüber hinaus bietet es Impulse für eine geschichtskulturelle Standortbestimmung im Allgemeinen.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Michael Wildt: "Volksgemeinschaft" - eine Zwischenbilanz, in: Dietmar von Reeken / Malte Thießen (Hgg.): "Volksgemeinschaft" als soziale Praxis. Neue Forschungen zur NS-Gesellschaft vor Ort, Paderborn 2013, S. 355-369; Moritz Föllmer / Martina Steber / Bernhard Gotto / Elizabeth Harvey / Peter Longerich / Dietmar Süß: Volksgemeinschaft und die Gesellschaftsgeschichte des NS-Regimes, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), 433-467.

[2] Vgl. die Ergebnisse des Panels "Bildungs- und Vermittlungsarbeit zum Nationalsozialismus" der Tagung "Der Ort der 'Volksgemeinschaft'" in Hannover vom 25.06.-27.06.2015 im Tagungsbericht von André Postert: http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6193

[3] Uwe Danker / Claudia Ruge: Die Neulandhalle. Machbarkeitsstudie zur Neunutzung als "Historischer Lernort Neulandhalle", Malente 2012.

Rezension über:

Uwe Danker: Volksgemeinschaft und Lebensraum: Die Neulandhalle als historischer Lernort (= Beiträge zur Zeit- und Regionalgeschichte; Bd. 3), Neumünster: Wachholtz Verlag 2014, 167 S., ISBN 978-3-5290-2253-1, EUR 18,00

Rezension von:
Malte Thießen
Institut für Geschichte, Carl von Ossietzky Universität, Oldenburg
Empfohlene Zitierweise:
Malte Thießen: Rezension von: Uwe Danker: Volksgemeinschaft und Lebensraum: Die Neulandhalle als historischer Lernort, Neumünster: Wachholtz Verlag 2014, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 3 [15.03.2016], URL: https://www.sehepunkte.de/2016/03/26617.html


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