sehepunkte 16 (2016), Nr. 6

Amy Appleford: Learning to Die in London, 1380-1540

Der vorliegende Band basiert auf einer umfangreichen und mit Sorgfalt erarbeiteten Quellengrundlage (die Bibliographie beginnt mit einer Auflistung der von der Autorin eingesehenen Handschriften in 33 Bibliotheken und Archiven), dessen Thema, der Prozess des Sterbens und die geistliche Vorbereitung darauf, auf die englische Metropole bezogen wird. In fünf Kapiteln wird die Rezeption meist auf nichtenglischen Vorlagen basierender religiöser Texte vorgestellt, die sich an ein Laienpublikum richten.

Der erste Abschnitt befaßt sich mit der Verantwortung des Familienoberhauptes und Haushaltsvorstandes, die häusliche Gemeinschaft im christlichen Sinne zu leiten, eine Verantwortung, die sich auch auf die karitative Betreuung der Kranken und die Begleitung der Sterbenden des weiteren sozialen Umfeldes erstreckt. Durchaus nicht alle der hier herangezogenen Texte, z.B. der ihre Krankheitsleiden beschreibenden Julian von Norwich, haben einen direkten Londonbezug, auch wenn sie vielleicht von einigen Londoner Bürgern rezipiert wurden (26).

Im zweiten Kapitel stehen die Stiftungen des Londoner Bürgermeisters Richard Whittington im Mittelpunkt, dessen Testament vom Leiter der Stadtverwaltung, John Carpenter, vollstreckt wurde. Mittelpunkt des dritten Kapitels ist die Londoner "death culture" (98) in dem, neben einem Hinweis auf einige religiöse Institutionen in der Stadt, wieder Texte im Mittelpunkt stehen, die vermutlich in London rezpiert wurden. Dieser Ansatz wird im vierten Abschnitt mit der Analyse von mittelenglischen Übersetzungen weiter entwickelt, deren Vorlagen aus anderen Teilen Europas stammen, eine zeitliche Ausweitung in das 16. Jahrhundert erfolgt dann im letzten Kapitel.

Appleford gelingt es, eine engere Beziehung der bürgerlichen Elite Londons zu den eingangs genannten Themen nachzuweisen, wobei sieben Texte im Mittelpunkt stehen, die durch Besitzvermerke in Handschriften mit Mitgliedern der Londoner Oberschicht in Verbindung gebracht werden können. Bereits hier wird deutlich, daß der im Buchtitel implizierte Anspruch, eine allgemeine Aussage zur spätmittelalterlichen Londoner Gesellschaft zu machen, nicht aufrecht erhalten werden kann - was die Autorin selbst eingesteht, wenn sie sagt, die Literaturgattung richte sich an "privileged lay addressees" (43), an "spiritually ambitious members of London lay elites" (109). Die Textanalyse einer Reihe von Schriften, die einigen Mitgliedern der städtischen Oberschicht bekannt waren, kann dies nicht leisten, sie ist nicht repräsentativ für eine große und sozial sehr differenzierte Gesellschaft. Hier hätte eine Auswertung der zahlreich überlieferten Testamente ein sehr viel besseres Ergebnis bringen können. Auch der Hinweis auf die karitativen Bestimmungen im Testament des prominenten Bürgermeisters Richard Whittington, auf sein Hospital (dessen Statuten erwähnt, aber nicht weiter analysiert werden) oder die Beschreibung der Totentanzmalerei im Bezirk der alten Londoner Kathedrale reichen nicht aus, um eine bestimmte und spezifische religiöse Kultur der englischen Metropole zu definieren. Der sporadische Rückgriff auf einzelne Testamente, etwas das des Sir John Manningham (176-177), mit seinen zwei "remarkable features", nämlich daß er Seelenmessen für seine Eltern bestellte und wohl ein schlechtes Verhältnis zu einem seiner Kinder hatte, bleibt wenig ergiebig.

Die Beschäftigung mit einem für alle Menschen existentiellen Thema war nicht auf die Londoner Bevölkerung oder die wirtschaftliche Elite der Stadt beschränkt, sie war auch nicht unbedingt ein städtisches Phänomen, wie immer wieder impliziert wird, sondern fand ihren Ausdruck in den Riten und Tätigkeiten von Bruderschaften, in Testamenten und in den oft mit ihnen in Zusammenhang stehenden religiösen Stiftungen. Stattdessen ist die Autorin immer wieder bemüht, einen Bezug zu London herzustellen, auch wenn dann nur auf vereinzelte Überschneidungen hingewiesen werden kann ("nodes" und keine Netzwerke, 217). Durchgehend überzeugende Aussagen können auf diese Weise nicht vorgelegt werden. Dagegen hätten sich aus der Tatsache, daß es sich bei fast allen Texten um mittelenglische Übersetzungen kontinentaleuropäischer Traktate handelte, wichtige Fragen entwickeln lassen. Es ergibt sich hier zunächst eine deutliche Einbindung Englands in eine allgemeineuropäische Theologie, die eine eigene, in verschiedene Regionen verbreitete Literatur hervorbringt. Enge Handelsbeziehungen des Königreiches in die Niederlande, das Rheinland und den Ostseeraum waren eine solide Basis für einen derartigen kulturellen Austausch. Es bleibt zu erklären, warum dabei nicht die sich seit dem 13. Jahrhundert entwickelnden Lebensformen der Semireligiosen auch in England übernommen wurden und warum eine Neuerung wie die Devotio moderna nur geringen Widerhall fand, wenn es doch eine so starke Nachfrage nach den hier vorgestellten Traktaten gab, die ja selbst ein Teil der Veränderungen waren und von der Autorin auch so dargestellt werden. Auch die Observanz religiöser Orden konnte sich nicht nach England hinein verbreiten. Die einzige Ausnahme, die Franziskanerobservanz, erreichte die Insel erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und stellte eine Neuerung dar, die durch die Krone eingeführt wurde.

Diese weite Perspektive fehlt jedoch in dem Buch, obwohl im 5. Kapitel ("Death in Henrician England"), das mit Thomas Lupset und Thomas More einen deutlicheren Londonbezug hat und die beste Textanalyse enthält, scheinbar eine weite Perspektive gewählt wird. Bei der inhaltlichen, oft auf langen Zitaten basierenden Auseinandersetzung mit den Texten wird der Versuch eines Vergleichs der Vorlagen mit den mittelenglichen Übersetzungen nur sporadisch unternommen (36, 160-162), so dass das Thema weitgehend ausgeklammert bleibt und philologische Aspekte nicht in die Diskussion mit einfließen.

Der abschließenden Behauptung, daß hier ein neues Verständnis der mittelalterlichen Auseinandersetzung mit den Themen des Sterbens und des Todes geboten wird (217), kann sich der Rezensent nicht anschließen. Ohne Zweifel war London ein Ort, an dem Texte gesammelt und von dem aus sie auch sowohl als Handschriften und später auch durch den Druck verbreitet wurden. Doch dies bedeutet noch nicht, daß hier eine eigenständige und lokal charakteristische religiöse Kultur entstand. Die Rolle der religiösen Institutionen in der Stadt kommt nicht zum Ausdruck und das Semireligiosentum, das sich spätestens seit dem 13. Jahrhundert in Form von Anachoreten und Inklusen offenbarte, wird nicht in die Argumentation mit einbezogen. Die Charakterisierung der Lebensumstände von Almosenempfängern in Richard Whittingtons Hospital, die sich frei in der Stadt bewegen durften, als "perhaps, Carthusian" (68) ist ebensowenig nachvollziehbar wie die Darstellung des 'bailiffs' als "urban figure" (90). Appleford operiert mit dem potentiell wichtigen Konzept des religiösen Perfektionismus (141, 149, 154, 199), doch wird dieser Gedanke leider nicht weiter verfolgt und eine genaue Definition des Begriffs unterbleibt. Vieles in London war eben nur "standard" (183).

Rezension über:

Amy Appleford: Learning to Die in London, 1380-1540 (= The Middle Ages Series), Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2014, X + 320 S., ISBN 978-0-8122-4669-8, GBP 42,50

Rezension von:
Jens Röhrkasten
Department of History, University of Birmingham
Empfohlene Zitierweise:
Jens Röhrkasten: Rezension von: Amy Appleford: Learning to Die in London, 1380-1540, Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2014, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 6 [15.06.2016], URL: https://www.sehepunkte.de/2016/06/26376.html


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