Welche Chancen und Risiken birgt eine Zeitgeschichtsschreibung, die sich dezidiert als Vorgeschichte der Gegenwart versteht? Leiten sich historische Fragestellungen nicht immer aus der Gegenwart ab, aus der unweigerlich zeitgebundenen Perspektive der Historiker und Historikerinnen? Welchen Unterschied macht es, ob ich von heute aus nach den Eigenarten der 1960er-, 1970er- oder 1980er-Jahre frage oder aber von einem Strukturbruch um 1970/75 ausgehe, der mich selbst in ein historisches Kontinuum "nach dem Boom" versetzt, das noch immer anhält? Verleitet mich das nicht dazu, alles das, was sich trotz des angenommenen Strukturbruchs kaum veränderte, für weniger wichtig zu halten? Ist Deutschland nicht weiterhin vor allem ein demokratisch-rechtsstaatliches, hochproduktives, zum sozialen Ausgleich fähiges modernes Industrieland, auch wenn der "Finanzmarktkapitalismus" auf dem Vormarsch zu sein scheint?
Anders als Zeithistoriker sind es Wirtschaftshistoriker, zu denen ich mich zähle, von jeher gewohnt, auch nach langfristigen Entwicklungen über politische Zäsuren hinweg zu fragen. Das Abrücken von der "Dekadenforschung" kann man aus dieser Perspektive nur begrüßen und als große Chance zur engeren Kooperation betrachten. Der Zeithorizont der Geschichte "nach dem Boom" hat sich, wie der vorliegende Band zeigt, erfreulich weit ausgedehnt und reicht - ganz nach problembezogener Fragestellung - bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, teils sogar bis zum Beginn der Moderne zurück. Den eigenen Epochenzusammenhang der Zeitgeschichte zu bestimmen, dürfte künftig erheblich schwieriger werden - ein nicht gering zu veranschlagendes Risiko, weil es die Fliehkräfte stärkt.
Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael diskutieren in ihrer instruktiven Einleitung nicht nur diesen flexibilisierten Zeithorizont der gegenwartsbezogenen Zeitgeschichte, die sich bewusst für die stärkere Berücksichtigung wirtschaftliche Bezüge geöffnet hat; zudem zeigen sie vielversprechende Theoriebezüge zu den Sozialwissenschaften auf (wobei der "Finanzmarktkapitalismus" besonders hoch im Kurs steht), umreißen bisher hauptsächlich bearbeitete Forschungsthemen und skizzieren offene Problemfelder. Der Band selbst gliedert sich in vier thematische Blöcke.
Der erste Schwerpunkt über "Formwandel und Strukturbrüche der Arbeit" versammelt Beiträge von Dieter Sauer zur "permanenten Reorganisation", von Andreas Boes, Tobias Kämpf und Thomas Lühr zur "Informatisierung", von Thomas Schlemmer zur Frauenerwerbstätigkeit, von Dietmar Süß zur Arbeitszeitflexibilisierung, von Wiebke Wiede zur Subjektivierung von Arbeitslosigkeit und von Tobias Gerstung zur Hafen- und Industriestadt Glasgow. Sie ergeben ein ambivalentes Bild: Neben neuen Zwängen und Zumutungen des Arbeitsmarktes, von der Hand- auf die Kopfarbeit übergreifenden Industrialisierungsprozessen und wachsenden Unsicherheiten für die private Lebensführung stehen zuvor ungekannte Emanzipations- und Entfaltungsmöglichkeiten. Dietmar Süß zeigt dies anschaulich: Flexible Arbeitszeiten brachten neue Gestaltungsmöglichkeiten mit sich, führten tendenziell aber auch zur Arbeitsintensivierung und zu neuen Problemen etwa bei der Altersvorsorge.
Der zweite Block bündelt Beiträge zur "Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik". Stefan Eich und Adam Tooze befassen sich mit der "Great Inflation", Christian Marx mit dem Aufstieg multinationaler Konzerne, Lutz Leisering mit der Evolution des Sozialstaats, Wolfgang Schroeder und Samuel Greef mit den Arbeitsbeziehungen, Maria Dörnemann mit der Familien- und Bevölkerungspolitik in Kenia. In allen Beiträgen treten langfristige Prägungen und politische Rigiditäten, aber auch tiefe Umbrüche in den frühen 1970er-Jahren zutage. Besonders deutlich wird dies bei Stefan Eich und Adam Tooze, die zum einen die Persistenz der in den 1920er-Jahren entstandenen Inflationsängste herausarbeiten, zum anderen verdeutlichen, welche markante Wende sich mit dem Übergang zur monetaristisch inspirierten Wirtschaftspolitik in den 1970er-Jahren in Westeuropa und den USA vollzog.
Im dritten Abschnitt geht es um den Wandel "Von der Konsum- zur Konsumentengesellschaft", verdeutlicht zunächst an allgemeinen Trends von Frank Trentmann, dann vertieft am Beispiel der Ernährung von Maren Möhring, des Fußballsports von Hannah Jonas und des Laufsports von Tobias Dietrich. Bemerkenswerterweise war die Herausbildung einer individualisierten Konsumentengesellschaft offenbar kaum von abrupten Umbrüchen, sondern von einer beständig wachsenden Bedeutung des Konsums geprägt, was in meinen Augen auf die ungebrochene Wachstumsdynamik des globalen Kapitalismus zu verweisen scheint.
Den Band beschließen Analysen von Zeithorizonten und Zeitdiagnosen aus der Feder von Martin Kindtner, Fernando Esposito, Elke Seefried, Dennis Eversberg und Morten Reitmeyer. Sie zeigen, dass sich mit zunehmender Geschwindigkeit des wahrgenommenen Wandels der überkommenen gesellschaftlichen Strukturen die Vorstellung der sozialen Akteure von stetigem Fortschritt, von planbaren Arbeits- und Lebensperspektiven, ja von historischer Entwicklung überhaupt immer mehr verflüchtigte. Auch die professionellen Zukunftsforscher, mit denen sich Elke Seefried befasst, verloren schon in den frühen 1970er-Jahren den Glauben an die politische Steuerbarkeit sozialökonomischer Prozesse und begannen sich deshalb stärker auf den Menschen und seine ökologische Umwelt zu konzentrieren.
Das Postulat des Beginns einer neuen Ära "nach dem Boom" scheint sich mithin eher zu bestätigen als ins Wanken zu geraten. Doch gerade weil sich viele Zeithistoriker für den internationalen Vergleich, die transnationale Transfer- und Verflechtungsgeschichte und stärkere Bezugnahmen auf die Wirtschaft geöffnet haben, entstehen zugleich neue Fragen: Muss die Perspektive einer Vorgeschichte der Gegenwart nicht unweigerlich eine globalhistorische sein? Wenn man den Blick aber von den westlichen Industrieländern, die hier noch immer im Mittelpunkt stehen, auf den für ihre Transformation maßgeblichen Strukturwandel der Weltwirtschaft weitet, dann wird im Lichte der globalhistorischen Forschung schnell erkennbar, dass in anderen Weltregionen - insbesondere in Asien - seit den 1970er-Jahren keineswegs vom Ende eines Booms, vielmehr von erfolgreichen Aufholprozessen zu reden ist: Die "Große Divergenz" zwischen der Atlantischen Welt und Asien, die um 1800 aufbrach und wirtschaftlich betrachtet überhaupt erst den Weg in die westliche Moderne ebnete, hat sich inzwischen beträchtlich abgeschwächt.
Ein anderer Aspekt ist die bisher praktizierte Kooperation von Zeithistorikern und Sozialwissenschaftlern unter Ausschluss von Ökonomen. Fragen, Ansätze und Befunde stehen meines Erachtens oft noch zu sehr nebeneinander. Der für sich interessante Beitrag der Sozialwissenschaftler Andreas Boes, Tobias Kämpf und Thomas Lühr über den Trend zur "Informatisierung" beispielsweise argumentiert stark pauschalisierend, verknüpft sich nicht einmal ansatzweise mit den reichhaltigen Forschungen zur Unternehmensgeschichte (die Differenzierungen nach Unternehmensgrößen und Branchen nahelegen würden) oder den ersten vertieften Studien zur Geschichte des Strukturwandels. Dabei würde es im Sinne des Forschungsprogramms doch ganz nahe liegen, die Rolle der "Informatisierung" für den Strukturwandel näher zu ergründen: Spielte sie womöglich bei Finanzdienstleistern eine größere Rolle als in der produzierenden Industrie? Leistete sie damit einen empirisch nachweisbaren, womöglich sogar zu quantifizierenden Beitrag zur "Finanzialisierung" der Wirtschaft und damit zum Aufstieg des vielzitierten, aber als historisch-empirisches Phänomen noch gar nicht richtig greifbaren "digitalen Finanzmarktkapitalismus"?
Bei den historischen Beiträgen wiederum fällt auf, dass zwar häufig auf den "Kapitalismus" verwiesen wird, die Konturen dieses Konzepts aber verschwommen bleiben. So wird nicht deutlich, ob darunter eher ein sich wandelnder Modus des Wirtschaftens oder aber ein durch bestimmte Merkmale gekennzeichnetes Wirtschafts- oder gar Gesellschaftssystem verstanden wird. Dies hat sicher viel mit dem unzureichenden Forschungsstand zu einer Geschichte des Kapitalismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu tun und verweist einmal mehr auf das grundlegende Problem, systemisch angelegte Konzepte der Sozialwissenschaften für die historisch-empirische Analyse fruchtbar zu machen. Das kann wohl nur gelingen, wenn diese Konzepte tatsächlich radikal historisiert werden, was von Zeit- wie Wirtschaftshistorikern die Bereitschaft fordert, nicht nur die - sicher wichtigen! - zeitgenössischen Texte der Sozialwissenschaften, sondern vermehrt auch Archive zu konsultieren, um wirklich neue Primärquellen zu erschließen, die allein einen zusätzlichen, "unverstellten Blick" vermitteln können.
Alles in allem handelt es sich bei der "Vorgeschichte der Gegenwart", wie gerade auch diese kritischen Überlegungen zeigen, um einen überaus anregenden Band, der zur Weiterarbeit und zum intensiven Austausch nicht nur zwischen Zeithistorikern und Sozialwissenschaftlern, sondern auch mit Wirtschaftshistorikern einlädt. Über eine solche Kooperation könnten möglicherweise auch quantitativ arbeitende Wirtschaftswissenschaftler einbezogen werden, die ihre eigene Disziplin nicht als formal-abstrakte Kunst des Modellierens, sondern als eine historisch zu verankernde Sozialwissenschaft von beträchtlicher Relevanz für die Lösung von Problemen unserer Gegenwart verstehen, die von der Digitalisierung über die Finanzialisierung bis zur Rolle des Staates in der Wirtschaft und zur Stabilität der Demokratie reichen - um nur die wichtigsten zu nennen.
Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael / Thomas Schlemmer (Hgg.): Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom (= Nach dem Boom), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016, 502 S., ISBN 978-3-525-30078-7, EUR 80,00
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