In dem dreißigseitigen Heft über deutsch-jüdische Künstler und Literaten im Ersten Weltkrieg fragt Steffen Bruendel einleitend, wie es zu der "Überanpassung" kam, die in seinen Augen zahlreiche deutsche Juden zu Kriegsbeginn an den Tag legten, wenn sie sich lautstark als deutsche Patrioten bekannten. Um diese zu kontextualisieren, wendet sich der Autor zunächst in einem ersten Abschnitt dem politisch-intellektuellen Klima des deutschen Kaiserreichs im beginnenden 20. Jahrhundert zu, für das er das Nebeneinander aus Fortschrittsoptimismus und Kulturpessimismus als typisch herausarbeitet. Dieses leitet er aus dem technisch-wissenschaftlichen Fortschritt einerseits her, aus den Defiziten bei der Demokratisierung und Parlamentarisierung im Kaiserreich andererseits. Anzumerken bleibt hier allerdings, dass der verbreitete Kulturpessimismus der Zeitgenossen wohl nur zu einem sehr geringen Teil auf ein Bedauern über die schleppende Demokratisierung zurückzuführen ist. Des Weiteren beschreibt der Autor die um sich greifende Großstadtfeindlichkeit. Vielleicht hätte der Autor in diesem Kontext noch ausführlicher auf den seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert immer aggressiver werdenden Antisemitismus eingehen können, der ja nicht selten mit der Großstadtfeindlichkeit verbunden war und den er bei seinem Überblick zur Vorkriegszeit nur in Form der beruflichen Diskriminierung der Juden thematisiert.
Schließlich kommt Bruendel in diesem Abschnitt noch auf den "Nonkonformismus" zu sprechen - die zweite Komponente, die er im Titel der Schrift für die deutsch-jüdischen Künstler und Literaten als kennzeichnend ausmacht. Mit dieser Zuschreibung zielt er auf den Expressionismus, dem überdurchschnittlich viele jüdische Künstler und Literaten angehörten. Gerade sie, so führt der Autor im zweiten Abschnitt weiter aus, hätten den Ersten Weltkrieges oftmals mit besonderer Begeisterung begrüßt, da sie sich zum einen wie viele Deutsche von dem Waffengang eine kulturelle Erneuerung versprachen und da zum anderen in ihrem Fall damit noch die spezifisch jüdische Hoffnung auf das Ende des Antisemitismus im Burgfrieden einherging. Zu Recht erwähnt der Verfasser allerdings auch, dass nicht alle deutschen Juden diese Hochstimmung geteilt haben. Er nennt das Beispiel des Expressionisten Iwan Goll, der als "bikulturell geprägter Elsass-Lothringer nicht gegen Frankreich kämpfen wollte" (11). Wenn Bruendel Goll allerdings als "Ausnahme" darstellt, so sollte doch hinzugefügt werden, dass zahlreiche elsässische Juden sich auch nach 1871 ihrer ehemaligen Heimat Frankreich als dem ersten europäischen Land, das den Juden die Rechtsgleichheit gewährt hatte, weiterhin verbunden fühlten.
Der dritte Abschnitt nimmt die zunehmende Desillusionierung in den Blick, die der zermürbende Stellungskrieg vor allem bei jüdischen Kriegsteilnehmern, aber auch an der Heimatfront mit sich brachte. Während hier vielleicht noch hätte darauf hingewiesen werden können, dass diese Desillusionierung bei weitem nicht nur jüdische Deutsche betraf, widmet sich der vierte Abschnitt mit der sogenannten "Judenzählung" ganz explizit einer diskriminierenden und diffamierenden staatlichen Maßnahme, welche die im Krieg erlebte Enttäuschung gerade für Juden noch in bitterer Weise verschärfte. Bruendel identifiziert die "Judenzählung" als den Moment, der für viele deutsche Juden die Hoffnungen auf eine "deutsch-jüdischen Symbiose" (24) - einem zeitgenössisch freilich noch nicht verwendeten Begriff - habe zerbrechen lassen. Damit habe die "Judenzählung" nicht zuletzt auch den Zionismus gestärkt.
Der fünfte und letzte Abschnitt schließlich nimmt das Schicksal der deutsch-jüdischen Künstler und Literaten in der Zeit nach 1933 in den Blick, die von den Nationalsozialisten ungeachtet des patriotischen Engagements, das sie während des Ersten Weltkriegs erbracht hatten, in Konzentrationslagern ermordet, in den Selbstmord getrieben oder zur Flucht gezwungen wurden.
Es wäre zu viel verlangt, von dem schmalen Heft, das sich nicht unbedingt an das Fachpublikum, sondern an die breitere Öffentlichkeit wendet, grundlegend neue Einsichten zur deutsch-jüdischen Geschichte zu fordern. Mit den biographischen Beispielen etwa Ernst Lissauers, Arnold Zweigs oder Ernst Tollers liefert der Autor eine anschauliche Illustration der Haltung und des Wirkens jüdischer Intellektueller in der Zeit des Ersten Weltkrieges. Allgemein jedoch hätte eine kritische Reflexion des Deutungsmusters der "Überanpassung", das im Grunde dem in der Forschung viel debattierten und oft verworfenen Assimilationskonzept entspricht, der Arbeit sicherlich gut getan. Der im Titel angesprochene "Nonkonformismus" bleibt in Bruendels Ausführungen im Gegensatz zur Betonung der "Überanpassung" hingegen unerwartet blass.
Steffen Bruendel: Zwischen Nonkonformismus und Überanpassung. Deutschjüdische Künstler und Literaten im Ersten Weltkrieg (= Donnerstagshefte. Über Politik, Kultur und Gesellschaft; Heft 10), Essen: Klartext 2016, 30 S., ISBN 978-3-8375-1711-8, EUR 5,95
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