sehepunkte 21 (2021), Nr. 10

Cornelius Stöhr: Schöner Sterben

Zu den Verdiensten von Schöner Sterben gehört eine langfristige, vergleichende Perspektive. Dass das staatliche Gefallenengedenken bis zur europäischen Vormoderne ein fast ausschließliches Merkmal des klassischen Griechenlands war, bildet Cornelius Stöhrs Ausgangspunkt. Eine weitere Leistung des Buches ist, dass er sich nicht auf die Analyse des athenischen Falles beschränkt, sondern den Blick auch auf die gesamte Peloponnes und Boiotien lenkt. Sein Ziel ist es, zu verdeutlichen, warum die antiken Griechen dem kollektiven Gedenken so viel Raum gaben, welche Formen ihnen gemeinsam waren, welche nur in einzelnen Poleis vorkamen und ob sich für beide Fälle zeitliche Veränderungen und gemeinsame Entwicklungslinien feststellen lassen. Wie so oft wird die Aufgabe durch Lücken in der Dokumentation erschwert.

Frühere Studien hatten schon deutlich gezeigt, dass Athens Aufwand in der Bestattung und Kommemoration seiner Kriegsgefallenen einmalig war. Reinhard Stupperich [1] hatte bereits den Vergleich zwischen dem staatlichen Gefallenenbegräbnis und der privaten Bestattungspraxis vorgenommen; Christoph Clermont [2] und William K. Pritchett [3] verdanken wir eine systematische Sammlung der Quellen. Eine auswertende Synthese bot Nicole Lorauxs [4] an, deren Arbeit am einflussreichsten war: die Praxis des attischen patrios nomos vermittle eine offizielle Version attischer Geschichte, was zur Konstruktion der athenischen Identität beitragen sollte. Während sich Loraux vor allem auf literarische Quellen konzentrierte, wurde die materielle Evidenz zuletzt besonders von Nathan Arrington [5] untersucht. Stöhr zielt auf die Analyse der Entwicklung der attischen Praxis im 5. und 4. Jh. Nach ihm sei es den Athenern sehr früh gelungen, zwischen den Bedürfnissen der Angehörigen der Gefallenen und den Ansprüchen der Polis zu vermitteln (vgl. die vielen privaten Kenotaphe im demosion sema). Das öffentliche Gedenken sei im 4. Jh. erheblich zurückgegangen, bis es in den folgenden Jahrhunderten verschwunden sei. Die Gründe dafür werden nach einem Vergleich mit anderen Kontexten deutlich gemacht.

Eine sorgfältige und gründliche Analyse der Quellen zu kollektiven Gefallenengedanken in Boiotien lässt Stöhr zu dem Schluss kommen, dass sichere Belege nur für Theben, Thespiai und Plataiai zu finden seien. In Theben stände meist die Leistung der Einzelnen im Vordergrund (was weitere Untersuchungen im Zusammenhang mit den besonderen Merkmalen des böotischen Föderalismus wünschenswert macht), während in Thespiai und Plataiai die Gemeinschaft eine größere Rolle spiele; im Falle von Plataiai seien diese Unterschiede mit der Nähe zu Athen zu erklären. Jenseits lokaler Differenzierungen erkennt man regionale Tendenzen: die thebanische Hegemonie habe die Entwicklung von Formen des kollektiven Gedenkens beschleunigt.

Auch im Falle der Peloponnes ginge das kollektive Gefallenengedenken von der Polis und nicht von anderen Gruppen, wie Phylen oder Koina, aus. Bei Paus. 8.28.7 ginge es nicht um die Achaier, sondern um die (antispartanischen) Interessen der Megalopolitaner. Die Ehrungen des verstorbenen Feldherrn Philopoimen durch das Koinon (D.S. 29.18 und Liv. 39.50.9) beträfen eine einzige Person und die in IG IV² 1 28 (z. 59) erwähnten Achaioi seien mit synoikoi gleichgesetzt. Stöhr widmet der Peloponnes eine lange Analyse auch über die Achaier hinaus: besonders Argos habe nach Pausanias zahlreiche Monumente für Kriegsgefallene bauen lassen. Zu Recht unterstreicht Stöhr, dass in vielen Fällen Traditionen über archaische Schlachten und Bestattungen zur Zeit des Wiedererstarkens von Argos am Anfang des 5. Jh.s stark überformt worden seien. Im Fall der Bestattung der Toten nach dem Kampf von Hysiai hätte man auch in Betracht ziehen können, dass die Zahl in Paus. 2.24.7 verdorben ist. Es gibt dann weitere Unsicherheiten: z. B. lässt sich aus den Quellen nicht entnehmen, ob die Argiver nach dem Kampf der Dreihundert (Mitte 6. Jh.) die Bestattung der Gefallenen auf dem Schlachtfeld monumentalisierten. Mit größerer Sicherheit kann aber angenommen werden, dass die Gräber spartanischer Kriegsgefallener entweder direkt auf dem Schlachtfeld oder auf dem Gebiet benachbarter Alliierter errichtet wurden. In Sparta wurde eine staatliche und kollektive Form des Gedenkrituals in Sparta nicht praktiziert (hier hätte man vielleicht die Feste Gymnopaidien und Parparonia näher analysieren können). Insgesamt lässt sich feststellen, dass es auf der Peloponnes (sowie in Boiotien) wenige Belege für eine konstante Praxis kollektiven Gefallenengedenkens gibt.

Da sich aus der Analyse der verschiedenen Fälle erwies, dass von der Polis und nicht von anderen Gruppen das kollektive Gedanken an Gefallenen ausging, sucht Stöhr den Ursprung dieser Praxis in der Polisideologie. Für diese waren Gleichstellung der Bürger, hohes Identifikationspotential mit der Polis, aktive Teilhabe des einzelnen an der Gemeinschaft und unabhängige Handlungsfähigkeit des Gemeinwesens als Ganzes wichtig. Im historischen Teil untersucht Stöhr dann die konkreten Ereignisse, die die Entwicklung des Gefallenengedankens beeinflussten. Die Verdichtung der Evidenz in Athen um die Wende vom 6. bis zum 5. Jahrhundert wird von Stöhr mit der kleisthenischen Reform in Zusammenhang gebracht, die aber zu automatisch mit der Einführung der Demokratie gleichgesetzt wird. Die Perserkriege stellen auch eine Zäsur dar, dabei bildete Athen in der Kommemoration der Gefallenen ein Vorbild. Jene, die nicht mitgekämpft hatten, kompensierten dies durch eine verstärkte Kommemoration der mythischen Großtaten (Argos) oder führten das staatliche Gefallenengedenkens erst später neu oder wieder ein (Theben). Die Bestattung der athenischen Gefallenen erfolgte ab den 460er Jahren (oder auch schon früher) jahresweise und wurde so von Sieg oder Niederlage entkoppelt: alle waren für die attische arche gestorben. Stöhr versucht auch zu erklären, warum die Gefallenenliste des Jahres 394 der letzte sicher identifizierbare materielle Beleg für ein Gefallenenbegräbnis in Athen darstellt und die letzten literarische Quellen eine staatliche Bestattung anlässlich der Schlacht von Chaironeia und des Lamischen Krieges bezeugen. Nach Johannes Wienand [6] wären die Athener nach 394 wieder zu einer anlassbezogenen Bestattung der Kriegstoten zurückgekehrt. Stöhr geht noch weiter: nur bei bestimmten Anlässen auf Antrag in der ekklesia wurde ein Staatsbegräbnis gewährt. Das Verschwinden der Praxis im Hellenismus (und deren Fehlen in Rom) sei durch mehrere Faktoren zu erklären, insbesondere durch den Verlust/das Fehlen einer ausgeprägten Gleichheitsvorstellung. Damit hat Stöhr sein Ziel erreicht: den Grund für die Besonderheiten der griechischen Praxis zu finden.


Anmerkungen:

[1] R. Stupperich: Staatsbegräbnis und Privatgrabmal im klassischen Athen, Diss. Münster 1977; ders.: The Iconography of Athenian State Burials in the Classical Period, in: W. Coulson (ed.): The Archaeology of Athens and Attica under the Democracy, Oxford 1994, 93-103.

[2] C.W. Clairmont: Patrios Nomos. Public Burial in Athens During the Fifth and Fourth Centuries B.C.: the Archaeological, Epigraphic-literary and Historical Evidence, Oxford 1983.

[3] W.K. Pritchett: The Greek State at War, vol. 4, Berkeley et al. 1985.

[4] N. Loraux: L'invention d'Athènes: histoire de l'oraison funèbre dans la 'cité classique', Paris et al. 1981.

[5] N. Arrington: Ashes, Images, and Memories: The Presence of the War Dead in Fifth-Century Athens, Oxford 2015.

[6] J. Wienand: Die Politisierung des Todes. Gefallenenbestattung und Epitaphios Logos im klassischen Athen, unveröffentlichte Habilitationsschrift Düsseldorf 2018.

Rezension über:

Cornelius Stöhr: Schöner Sterben. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis in klassischer und hellenistischer Zeit, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2020, 438 S., ISBN 978-3-534-40384-4, EUR 56,00

Rezension von:
Elena Franchi
Dipartimento di Lettere e Filosofia, Università degli Studi di Trento
Empfohlene Zitierweise:
Elena Franchi: Rezension von: Cornelius Stöhr: Schöner Sterben. Das Gefallenengedenken in den griechischen poleis in klassischer und hellenistischer Zeit, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 10 [15.10.2021], URL: https://www.sehepunkte.de/2021/10/35004.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.