Regeln beherrschen unsere Kommunikation. Sie sind selten verschriftlicht, sondern ergeben sich zumeist aus unserer Sozialisation und aus den Kontexten, in denen wir uns bewegen. Mit solchen "ausgehandelten Regeln" ("negotiating rules", 7) des schriftlichen Austausches befasst sich der vorliegende Sammelband. Im Kern geht es den Herausgebenden um die politische Kommunikation des Hoch- und Spätmittelalters, welche sich besonders im Schriftgut der Kanzleien auskristallisierte. Ausgehend von den politischen Umständen, über die Entstehungs- und Nutzungskontexte bis hin zur Rezeption sollen Schriftzeugnisse, allen voran Urkunden und Schreiben, aus dem heutigen deutsch-, französisch- und italienischsprachigen Raum untersucht werden. Die Herausgebenden verfolgen, wie Christina Antenhofer in ihrer Einleitung herausstellt, eine grundwissenschaftliche Herangehensweise, die sich nicht allein auf die mittelalterlichen Dokumente beschränkt, sondern stets die mit den Schriftstücken verknüpften Akteure und Institutionen in den Blick nimmt, sie kontextualisiert und miteinander in Bezug setzt.
Das Buch ist in drei Sektionen mit jeweils zwei respektive drei Beiträgen gegliedert. Im ersten Abschnitt werden die Regeln aus den Dokumenten selbst abgeleitet. Sébastian Barret untersucht das Urkundenkorpus der Abtei Cluny im 10. und 11. Jahrhundert speziell auf die Sanctiones. Eine digitale Edition ermöglicht es Barret, den textuellen Inhalt von über 5.500 Urkunden mittels Datenbankabfragen auszuwerten. Er kommt zu dem Ergebnis, dass es deutlich weniger spirituell-geistlich konnotierte Formeln gab als solche, die weltliche Konsequenzen - allen voran monetäre Strafen - androhten. Ganz generell, so konstatiert Barret, ging es den Schreibern im Umfeld Clunys weniger um Gültigkeit und Autorität als um die Generierung und Verteidigung von Rechten. Dies unterschied sie von jenen Zeitgenossen, die in königlichen oder päpstlichen Diensten standen. Wie Sébastien Barret betrachtet auch Arnold Otto die Pönformeln mittelalterlicher Urkunden, jedoch über vierhundert Jahre nach den Beispielen aus dem Burgund. Die Urkunden aus der Regierungszeit Kaiser Karls IV. (gest. 1378) werden einerseits anhand der Höhe der angedrohten Strafzahlung und andererseits sprachlich hinsichtlich ihrer deutschen und lateinischen Formeln untersucht. Otto gelangt zu dem Schluss, dass sich in der Kanzlei Karls IV. ein nicht verschriftlichtes Regelwerk herausgebildet hatte, welches bestimmten Inhalten spezielle Strafhöhen zuwies.
Im zweiten Teil des Sammelbandes stehen die administrativen Praktiken im Fokus. Ellen Widder widmet sich drei wittelsbachischen Kanzleiordnungen des ausgehenden 15. Jahrhunderts. Sie stellt die einzelnen Bestimmungen im Hinblick auf die Funktionsträger und ihre Aufgaben, die in den Kanzleien produzierten Schriftstücke sowie die dort verwendeten Siegel vor und vergleicht sie miteinander. Die Untersuchung Julia Hörmann-Thurn und Taxis nimmt sich wiederum den Kanzlei- und Registraturvermerken der Kanzleien Ludwigs des Brandenburgers (gest. 1361) in Bayern und Tirol an. Die hauptsächlich in den Registern notierten Vermerke sind Zeugnisse einer von klaren Arbeitsschritten und einem hohen Grad an Arbeitsteilung geprägten landesherrlichen Kanzlei des späten Mittelalters. Im letzten Beitrag des zweiten Teils entwirft Klaus Brandstätter einen Problemaufriss spätmittelalterlicher städtischer Kanzleien. Laut Brandstätter liege die Aufgabe der künftigen Forschung vor allem darin, individuelle Stadtschreiber in den Blick zu nehmen, da sie es gewesen seien, die zur Einführung und Verbreitung des städtischen Verwaltungsschriftguts beigetragen hätten. In Bezug auf die Regelhaftigkeit urbaner Schriftlichkeit verweist Brandstätter in erster Linie auf die Formel- und Regelbücher, die ab dem 15. Jahrhundert in zahlreichen Städten Verbreitung fanden.
Im abschließenden dritten Segment werden die Austauschprozesse zwischen den Kanzleien und den politischen Akteuren betrachtet. Den Auftakt macht Isabella Lazzarini mit einer Studie der Mailänder Kanzlei in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Anhand der zahlreichen Ordnungen wie auch der Register, die nach dem Verlust respektive der Vernichtung des Zentralarchivs nach dem Aussterben der Visconti im Jahr 1447 angelegt worden waren, kann Lazzarini deutlich herausarbeiten, wie die Akteure in der Kanzlei versuchten, Ordnung zu stiften - und dies fortwährend, denn stets wurden neue Regeln aufgestellt, was beweist, dass die Ordnungsversuche nur in beschränktem Maße und für kurze Zeiträume Früchte trugen. Gleichzeitig demonstrieren Schreiben wie beispielsweise an den Sultan von Ägypten und Syrien, dass man in Mailand den Spagat zwischen Regelhaftigkeit einerseits und Flexibilität andererseits zu beherrschen wusste. Diese Flexibilität ging der Kanzlei der Grafen von Görz, welche Christina Antenhofer für das ausgehende 15. Jahrhundert untersucht, ab. Anhand der Verhandlungen um die Ehe zwischen Graf Leonhard von Görz (gest. 1500) und Paula Gonzaga (gest. 1496) verdeutlicht sie, dass die Kommunikation zwischen der Mantuaner und der Görzer Kanzlei zuvorderst durch kulturelle Differenzen erschwert wurde. Dabei spielten nicht allein die divergierende Beurkundungspraxis eine Rolle, sondern auch abweichende Vorstellungen hinsichtlich der Eheausgestaltung oder der unterschiedlich starke Einfluss des landesherrlichen Rates. Abgeschlossen wird der Sammelband von Michaela Marini, die in ihrem Beitrag die Tiroler Kanzlei und deren Zusammenspiel mit dem Landtag unter Herzog Sigismund (gest. 1496) betrachtet. Nach einer Skizze der Aufgaben und des Personals beziehungsweise der Vertreter in Kanzlei und Landtag kommt Marini zu dem Ergebnis, dass die Kanzlei eine Scharnierfunktion zwischen dem Landesherrn und den Landständen einnahm. Diese kam ihr aufgrund ihrer dominanten Rolle in der Schriftgutproduktion im Umfeld des Fürsten und des Landtags zu.
Zum Schluss möchte ich einen kritischen Punkt ansprechen: Die acht Aufsätze des Sammelbands basieren auf Vorträgen, welche im Jahr 2012 auf dem Leeds International Medieval Congress gehalten wurden. Die lange Veröffentlichungsdauer von annähernd einem Jahrzehnt blieb nicht ohne Folgen: In einigen Aufsätzen wurde die jüngste Forschung nur noch sporadisch, teilweise sogar überhaupt nicht eingearbeitet. Dies führt unweigerlich dazu, dass Forschungsüberblicke, aber stellenweise auch die Argumentationen selbst an Aktualität und dadurch an Gewicht verlieren. Unabhängig davon macht die Mehrzahl der vorgestellten Sammelbandbeiträge deutlich, dass es sich lohnt, das mittelalterliche Schriftgut mit dem reichen Werkzeugkasten der Historischen Grundwissenschaften zu untersuchen. Die Aufsätze ergänzen die bestehende Forschung um wichtige Einblicke in die Arbeitsweisen und die Bedeutung hoch- und spätmittelalterlicher Kanzleien für die politische Kommunikation. An den ausgewählten Beispielen wird deutlich, welch wichtige Rolle den Kanzleien in der Ausformung und Ausgestaltung eines auf geschriebenen wie ungeschriebenen Regeln basierenden schriftlichen Austausches zukam.
Christina Antenhofer / Mark Mersiowsky (eds.): The Roles of Medieval Chanceries. Negotiating Rules of Political Communication (= Utrecht Studies in Medieval Literacy; 51), Turnhout: Brepols 2021, IX + 198 S., 22 s/w-Abb., ISBN 978-2-503-58964-0, EUR 70,00
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