sehepunkte 22 (2022), Nr. 9

Sören Flachowsky: Saubere Stadt. Saubere Weste?

In seiner 2007 erschienenen "Umweltgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts" hat Frank Uekötter auf das Fehlen einer umfassenden Studie zu Arbeitern und Angestellten in den Einrichtungen der städtischen Abfallsammlung und Straßenreinigung hingewiesen. [1] Seitdem sind zwar zur Entsorgungsgeschichte Monografien wie Roman Kösters "Hausmüll" [2] oder Aufsätze wie Heike Webers "Entschaffen" [3] entstanden, die die Untiefen des vielschichtigen Themenbereichs "Abfall" wirtschafts- oder technikgeschichtlich ausloten, dennoch blieben - wie Köster konstatiert hat - Lücken in der Forschung. Sören Flachowsky pflichtet diesem Befund in der Einleitung seiner Studie "Saubere Stadt. Saubere Weste" bei und versucht sodann, das konstatierte Forschungsdesiderat zumindest für Berlin zu schließen.

Im Auftrag der Berliner Stadtreinigungsbetriebe (BSR) erstellt, breitet der Autor darin auf knapp 900 Seiten eine Institutionengeschichte aus. Diese stellt ein Novum im Bereich der Entsorgungshistoriografie dar, die sich ansonsten meist auf den Feldern der Umwelt- und/oder Technikgeschichte bewegt oder im Rahmen einer klassischen Firmenfestschrift behandelt wird. Der zutreffenden Kritik, dass sich bislang viele Publikationen zur Entsorgungsgeschichte in großformatigen Abdrucken von Bildern kommunaler Technik erschöpften, stellt Flachowsky eine beeindruckende Zahl von Archivquellen und Literatur sowie statistischen Daten entgegen, was sich nicht nur in knapp dreitausend Fußnoten, sondern auch in einem fast 40 Seiten langen Anhang mit 19 Tabellen niederschlägt. Ergänzt wird seine historiografische Arbeit durch ein zweites, externes Fazit von Michael Schäfer, emeritierter Professor für Kommunalwirtschaft, der die historischen Studienergebnisse in den gegenwärtigen kommunalwirtschaftlichen Kontext einordnet und Zukunftsstrategien abzuleiten versucht. Aufgrund des implizit kommunalpolitischen Subtextes soll in der vorliegenden Rezension auf diesen Teil der Monografie jedoch nicht näher eingegangen werden.

Flachowsky gliedert die Darlegung seiner Forschungsergebnisse im Grundaufbau bewährt chronologisch und in vier Hauptkapitel, wobei das dritte, das sich mit den Entwicklungen der Berliner Stadtreinigung während des Nationalsozialismus beschäftigt, den größten Umfang hat. Mit 358 Seiten könnte dieser Abschnitt bereits für sich als Buch stehen.

Im ersten Hauptkapitel, welches den Zeitraum von 1871 bis 1918 behandelt, stellt der Autor die Gründung einer kommunal betriebenen und verwalteten Städtereinigung in den Kontext damaliger Diskussionen und Bemühungen zur Verbesserung der städtischen Hygiene. Diese hatten ihren Ausgang in Großbritannien und etablierten sich infolge der Hamburger Cholera-Epidemie des Jahres 1895 als Bestandteil städtischer Planung auch in Deutschland.

Das zweite Kapitel der Untersuchung behandelt die Zwischenkriegszeit. Die aus den wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen jener Jahre resultierenden Neu- und Umorganisationen der Berliner Stadtreinigung haben - inklusive mehrerer Skandale - durchaus das Potenzial für einen Wirtschaftskrimi oder ein Sittengemälde jener Zeit in Berlin. Darüber hinaus legen diese Ausführungen das Fundament für den Hauptteil des Buches. Die branchentypische Dissonanz, dass insbesondere Müllwerker und Straßenkehrer zum einen über ein geringes symbolisches Kapital, zum anderen jedoch über vergleichsweise hohes ökonomisches Kapital in Form überdurchschnittlicher Löhne und beruflicher Aufstiegschancen verfügten, erzeugte vor allem in der Zeit des Nationalsozialismus eine verhängnisvolle Dynamik. Nach 1933 versuchten verstärkt "Parteigenossen" ein Arbeitsverhältnis bei der Berliner Stadtreinigung zu erlangen. Ihre Erfolgschancen waren nicht gering. Schon zu Zeiten der Weimarer Republik hatten sich bei der Berliner Müllabfuhr-Aktiengesellschaft in verantwortlicher Position diverse Nationalsozialisten befunden, die im "Dritten Reich" sodann ihre Stellung für den Ausbau ihrer Karrieren nutzten. Dass bereits seit Gründung der Berliner Stadtreinigung in kommunaler Verantwortung dort ein geradezu militärisches Betriebsklima herrschte, in dem Vorgesetzte sich zum Teil auch mit der physischen Gewalt des Schlagstocks durchsetzten, machte die Stadtreinigung für autoritätsfixierte Personen als Arbeitgeber darüber hinaus attraktiv. Der nach 1933 zunehmend größer werdenden Gruppe von Befürwortern, Unterstützern und Duldern des Nationalsozialismus standen aktive Linke gegenüber, wie Flachowsky zu quantifizieren weiß. Er erteilt jedoch der überkommenen Aussage eine klare Absage, dass es sich bei der Berliner Stadtreinigung um eine weiterhin links orientierte Institution gehandelt habe. Auch wenn es diverse Akte des Widerstands gab, belegen die Zahlen das Gegenteil.

Im ersten Teil des Kapitels zur NS-Zeit beschreibt der Autor die Verschmelzung der Stadtreinigung und ihrer Verwaltungseinrichtungen mit den nationalsozialistischen Strukturen. Bei der Schilderung der Stadtreinigung nach Kriegsbeginn widmet er sich dann vor allem der Darstellung des Einsatzes von Zwangsarbeitern sowie der Instrumentalisierung der Stadtreinigung zur systematischen physischen und psychischen Brechung von Berlinern, die nach den Nürnberger Rassegesetzen diskriminiert wurden. Durch die überhäufige Einteilung von jüdischen Bürgern zum Kehren von Straßen wurde die seit dem Mittelalter übliche Stigmatisierung von Tätigkeiten zur Reinhaltung des öffentlichen Raums durch deren Übertragung an Straftäter und soziale Randgruppen in der NS-Diktatur fortgeführt. Der forcierte Einsatz von Zwangsarbeitern während des Zweiten Weltkriegs und der in diesem Zusammenhang unternommene Aufbau eigener Lager waren zwar schon vor Flachowskys Studie bekannt, der Autor liefert jedoch erstmals für einen Städtereinigungsbetrieb belastbare Zahlen. Außerdem bettet er den Einsatz von Zwangsarbeitern in den Kontext des Bombenkriegs sowie in den der Kriegswirtschaft ein, wobei die von den Nationalsozialisten propagierte Kreislaufwirtschaft die prominenteste Maßnahme war, wenngleich sie weitgehend wirkungslos blieb.

Zur Ironie der Geschichte gehört, dass die Berliner Straßenreinigung nach dem Krieg - wenn auch oft nur für kurze Zeit - zu einem Sammelbecken für ehemalige Nationalsozialisten wurde und diesen häufig als Sprungbrett für einen Wiedereintritt in den öffentlichen Dienst diente.

Grund zur Kritik bietet der Aufbau der Publikation, durch den die Studie in manchen Abschnitten den roten Faden vermissen lässt und mehr Exkurse als üblich beinhaltet. Dies könnte dem Spagat geschuldet sein, die umfangreichen Forschungsergebnisse in einer Monografie zugleich einem Fachpublikum und einer interessierten Öffentlichkeit zu präsentieren. Außerdem fallen einige Ungenauigkeiten bei der Beschreibung der Technik auf. So sind die Sammelbehälter nicht nur nach ihrem Volumen zu differenzieren, sondern auch nach Funktionsweise und Hersteller, denn daraus ergaben sich spezifische Arbeitsabläufe und Sammelleistung. Dass die angesprochene Ringtonne von Schmidt & Melmer in den meisten europäischen Staaten üblich war, darf trotz ihres hohen Verbreitungsgrades bezweifelt werden (702), auch die Leistungsdaten von Müllwerkern um 1935 sind nicht nachvollziehbar (414). Wünschenswert wäre darüber hinaus eine kritische Begriffsgeschichte der "Daseinsvorsorge", da dessen Schöpfer Ernst Forsthoff durchaus nationalsozialistisch belastet war und den Begriff erstmals in einer Schrift zur Legitimation des "Führerstaates" verwendete.[4]

Mit seiner Studie legt Sören Flachowsky gleichwohl eine überaus faktenreiche und beeindruckende Darstellung vor, die vor allem die Forschungsdesiderate hinsichtlich politischer Einstellung und Entlohnung städtischer Arbeiter und Angestellter der Städtereinigung ausräumt sowie den Umfang und die Art der dortigen Beschäftigung von Zwangsarbeitern und Juden während des NS-Zeit belegt. Mit seinem reichhaltigen statistischen Material wird dieses Buch sicher Grundlage weiterer Forschungen sein.


Anmerkungen:

[1] Frank Uekötter: Umweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, München 2007, 66f.

[2] Roman Köster: Hausmüll. Abfall und Gesellschaft in Westdeutschland 1945-1990, Göttingen / Bristol 2017.

[3] Heike Weber: Einleitung. "Entschaffen": Reste und das Ausrangieren, Zerlegen und Beseitigen des Gemachten, in: Technikgeschichte 81 (2014), 3-32.

[4] Jens Kersten: Die Entwicklung des Konzepts der Daseinsvorsorge im Werk von Ernst Forsthoff, in: Der Staat. Zeitschrift für Staatslehre und Verfassungsgeschichte, deutsches und europäisches öffentliches Recht H. 4 (2005), 543-571; Ernst Forsthoff: Die Verwaltung als Leistungsträger, Hamburg 1938, 5ff.; Dirk Wiegand: Innovation durch Normung. Technische Regelsetzung in der Kommunalen Technik, Essen 2020, 323ff.

Rezension über:

Sören Flachowsky: Saubere Stadt. Saubere Weste? Die Geschichte der Berliner Stadtreinigung von 1871 bis 1955 mit dem Schwerpunkt Nationalsozialismus, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2021, 899 S., zahlr. s/w-Abb., zahlr. Tbl., ISBN 978-3-8305-5093-8, EUR 105,00

Rezension von:
Dirk Wiegand
SASE - Sammlung aus Städtereinigung und Entsorgung, Iserlohn
Empfohlene Zitierweise:
Dirk Wiegand: Rezension von: Sören Flachowsky: Saubere Stadt. Saubere Weste? Die Geschichte der Berliner Stadtreinigung von 1871 bis 1955 mit dem Schwerpunkt Nationalsozialismus, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 9 [15.09.2022], URL: https://www.sehepunkte.de/2022/09/36730.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.