sehepunkte 22 (2022), Nr. 10

Brigitte Studer: Reisende der Weltrevolution

Nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem globalen Sieg des demokratischen Liberalismus schien der Kommunismus eine Illusion des 20. Jahrhunderts gewesen zu sein. [1] Dennoch ist jene Illusion, dessen erste Verkörperung die Kommunistische Internationale gewesen ist, kollektiv, gar global und transnational gewesen. Diese wurde von Lenin als Bindeglied zwischen dem sowjetischen Staat und der kommunistischen Weltbewegung 1919 gegründet. Verkörperungen, auch wenn sie eine Weltrevolution als Ziel haben, brauchen jedoch nicht nur eine Elite, die das politische Projekt entwickelt und die Linie bestimmt, sondern auch Aktivistinnen und Aktivisten zweiten und dritten Ranges wie "Sekretäre und Sekretärinnen, Dolmetscherinnen und Übersetzer, Radiotechniker, Chiffrierspezialisten" (29), kurz gesagt: eine Organisation oder einen Apparat, wie ihre Mitglieder es nannten. Ein Kaderbestand (obwohl die Autorin zu Recht den Begriff als "zu wenig differenziert" (42, Anm. 52) definiert) von 30.000 kosmopolitischen Frauen und Männern arbeitete zwischen 1919 und 1943 als Berufsrevolutionäre für die Komintern. Die ausgewählten, faszinierenden Biografien einiger jener Menschen und deren beruflichen und privaten Alltag untersucht Brigitte Studer in ihrem für Kommunismusforscher - aber nicht nur - unabdingbaren Band, der sich an ihre Veröffentlichung von 2015 mit dem Titel "The Transnational World of the Cominternians" anschließt.

Die Geschichte der Komintern wird also nicht aus der in der Geschichtsschreibung eher üblichen Perspektive der hochrangigen Funktionäre - seien es Lenin, Dimitrov, Togliatti, Kuusinen oder andere - analysiert, sondern aus der Sicht einer Gruppe von Berufsrevolutionären des riesigen Mitarbeiterbestandes, die indes nicht durchweg unbekannt sind. Unter den Protagonistinnen und Protagonisten der Studie finden sich etwa der Entrepreneur der Revolution Willi Münzenberg, die Fotografin und Schauspielerin Tina Modotti oder die Publizistin Margarete Buber-Neumann. Diese auf verschiedenen Ebenen ziemlich heterogenen Menschen (was beispielsweise die soziale Herkunft betraf, wobei vor allem in Europa die Aktivistinnen und Aktivisten - wie beinahe die gesamte Elite auch - eher dem kleinen oder mittleren Bürgertum entstammten) hatten dennoch einen gemeinsamen Nenner: ihr Leben als kosmopolitische und nomadische Existenzen. Reisen auf der Suche nach oder zugunsten der Schaffung von Revolutionsbedingungen war nämlich Teil der Arbeit als Agent der Kommunistischen Weltpartei. Da es also um die reisenden Sendboten geht und nicht um die Päpste der Revolution, die in Moskau saßen, spielt dieses Buch eher in Städten des Kaukasus und Zentralasiens wie Baku und Taschkent, Westeuropas wie Paris, Brüssel, Berlin, Zürich oder Chinas wie Guangzhou, Shanghai und Wuhan. Später, als Stalin aus der Komintern schon eine Berichterstatter-Organisation gemacht hatte (dies geschah bereits ab Mitte der 1920er Jahre, als Stalin die Doktrin des Sozialismus in einem Land ankündigt hatte), kam als Schauplatz noch Spanien hinzu, wo die Internationale im Bürgerkrieg ihren letzten Krieg führte, bevor 1943 der Parteichef der Sowjetunion die Komintern auflöste.

Das Verhältnis und die Spannung zwischen dem Globalen und dem Lokalen ist somit ein roter Faden der Arbeit. Wenn auf der einen Seite die Komintern als die am meisten internationale (in Bezug auf ihre Rhetorik), globale (in Bezug auf ihre Zielsetzung) und transnationale (in Bezug auf ihre Praktiken) Organisation des Jahrhunderts charakterisiert wird, und dies immer auch im Blick bleibt, so ist doch auch die lokale Dimension zentraler Untersuchungsgegenstand. Bevor der Komintern-Apparat aufgrund der zunehmenden Bürokratisierung peu à peu immer sklerotischer wurde, waren die Reisenden der Revolution in den glorreichen 1920er Jahren gezwungen, mithilfe großer Anpassungskraft unter sehr unterschiedlichen lokalen Bedingungen Verbindungen aufzubauen und Arbeitspraktiken aus dem Nichts zu schaffen. Die Städte waren dabei aber nicht isoliert, sondern Knoten eines Netzwerkes, in dem sich die Berufsrevolutionäre trafen. Exemplarisch in diesem Sinne ist nicht nur Berlin, das in den Augen der Kommunisten die Zentrale des westeuropäischen Kommunismus sein sollte, sondern auch Städte wie Baku und Taschkent. Als Anfang der 1920er Jahre Moskau und die Komintern versuchten, die Revolution nach Asien zu exportieren und die dortigen antikolonialen Bewegungen zu radikalisieren und kommunistisch zu prägen, erlangten diese Städte eine große Bedeutung.

In ihrer Darstellung verwendet die Autorin eine ganze Reihe verschiedener historiographischer Zugänge. In erster Linie vertritt sie den globalen und transnationalen Ansatz, wie er so oft in der Kommunismusforschung Eingang gefunden hat. [2] Dennoch spielen auch die Mikrogeschichte sowie die Emotionsgeschichte eine maßgebliche Rolle. Der Forschungsgegenstand ist ja in diesem Sinn selbst eine "emotional community" [3], deren Mitglieder nicht nur dieselben politischen Ziele und Vorstellungen hatten, sondern auch emotionale Dynamiken teilten. Für die Berufsrevolutionäre der Komintern war das Private politisch und es galt dasselbe, was Anna Foa, italienische Historikerin und Tochter des prominenten Widerstandskämpfers Vittorio Foa zur Geschichte ihrer Familie schrieb: "Die Emotionen des Herzens und der Politik gingen zusammen und verwickelten sich in Knoten, die schwer zu verstehen waren". [4]

Wollte man unbedingt eine Lücke im Buch benennen, so könnte man die mangelnde Erforschung der revolutionären und antikolonialistischen Aktivitäten auf dem amerikanischen Kontinent als Desiderat bezeichnen. Dieser Schauplatz war ja prägend nicht nur für die Komintern, sondern auch für eine Protagonistin des Werkes, nämlich Tina Modotti, die lange in Mexiko als dortiges Mitglied der KP aktiv war. Dies ist jedoch nicht als Vorwurf geschrieben, sondern soll vielmehr als eine Anregung an die Autorin der vorliegenden überzeugenden Monografie dienen, die Spuren der Reisenden der Revolution noch weiter zu erforschen.


Anmerkungen:

[1] François Furet: Le passé d'une illusion. Essai sur l'idée communiste au XXe siècle, Paris 1995.

[2] Vgl. z. B. Silvio Pons: The Global Revolution. A History of International Communism 1917-1991, Oxford / New York 2014; Robert Service: Comrades! A History of World Communism, Cambridge, MA 2007; Kasper Braskén: The International Workers' Relief, Communism, and Transnational Solidarity. Willi Münzenberg in Weimar Germany, Houndmills / New York 2015.

[3] Barbara H. Rosenwein: Emotional Communities in the Early Middle Ages, Ithaca / London 2007.

[4] Anna Foa: La famiglia F., Rom / Bari 2018.

Rezension über:

Brigitte Studer: Reisende der Weltrevolution. Eine Globalgeschichte der Kommunistischen Internationale, Berlin: Suhrkamp 2020, 618 S., ISBN 978-3-518-29929-6, EUR 30,00

Rezension von:
Francesco Leone
Universität Mannheim
Empfohlene Zitierweise:
Francesco Leone: Rezension von: Brigitte Studer: Reisende der Weltrevolution. Eine Globalgeschichte der Kommunistischen Internationale, Berlin: Suhrkamp 2020, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 10 [15.10.2022], URL: https://www.sehepunkte.de/2022/10/35704.html


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