Das schmale Buch sorgte bei seinem Erscheinen für einige mediale Aufregung. Denn Robert Rauh stellt infrage, dass die Mehrheit der DDR-Bevölkerung den Bau der Berliner Mauer entschieden abgelehnt habe. Das Gegenteil sei der Fall gewesen. Ausgangspunkt für seine These, die an unserem Geschichtsbild rüttelt, ist die durchaus richtige Beobachtung, dass es nur wenig aktiven Widerstand gegen das martialische Bauwerk gegeben habe. Alle quantitativ erwähnenswerten Proteste erfolgten von West-Berlin aus, im Osten blieb es hingegen auffallend still. Der Autor bezweifelt damit keineswegs die Unrechtmäßigkeit des Mauerbaus, stellt im Anschluss daran aber einige ebenso berechtigte wie interessante Überlegungen an. Mehr als 30 Jahre nach dem Mauerfall ist es höchste Zeit, genau das zu tun. Denn zu eingefahren und undifferenziert sind unsere bisherigen Interpretationen, zudem stammen sie in ihren Grundzügen bereits aus der Mitte der 1990er Jahre. Eine Neubewertung steht an.
Methodisch lässt sich einiges gegen das Buch einwenden. Das beginnt bereits mit dem Titel, der sicher Aufmerksamkeit generieren soll, doch höchst inkonsistent ist. Denn es gibt fundamentale Unterschiede zwischen der widerstandslosen Hinnahme einer Gewaltmaßnahme und deren ausdrücklichen Begrüßung. Die der Studie zentral zugrunde liegende und vom Autor selbst durchgeführte Befragung von 600 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen genügt - wie Robert Rauh selbst einräumt - nicht in jeder Hinsicht den Standards. Zudem sind die Ergebnisse nicht überprüfbar, da die Interviews nicht öffentlich zugänglich sind. Neue, überraschende Quellen liefert die Publikation nicht, und mitunter wird auf inzwischen veraltete Forschungsliteratur zurückgegriffen.
Und doch lohnt die Lektüre, zumal der Text gut lesbar ist. Zunächst lenkt Robert Rauh den Blick auf die unmittelbaren Ereignisse am Tag des Mauerbaus. Dabei verweist er auf eine grundlegende Diskrepanz: Die Machthaber in Ost-Berlin (die SED-Spitze wie auch die sowjetischen Besatzer) hatten durchaus mit einem Aufbegehren der Bevölkerung gerechnet und sich entsprechend vorbereitet. Schließlich war der Volksaufstand vom Juni 1953 noch keine zehn Jahre her. Doch bis auf Proteste von Einzelpersonen und überschaubaren Personengruppen blieb es ruhig in Ost-Berlin. Der Überraschungseffekt, die detaillierte Vorbereitung und flankierende Maßnahmen zeigten offensichtlich ihre Wirkung. Der Umstand, dass auch Wolf Biermann, später Galionsfigur der Opposition, an jenem Tag zu den Agitatoren für den Mauerbau gehörte, ist nicht neu, illustriert jedoch abermals, mit welch komplexen Vorgängen wir es in der Geschichte der DDR zu tun haben.
Um die Folgen des Mauerbaus insgesamt gewichten zu können, berücksichtigt Robert Rauh im Folgekapitel vier Personengruppen: die Arbeiterschaft, die Jugend, die Wissenschaftler und die Künstler. Engagiertes Aufbegehren schreibt er nur der Jugend zu, während die Arbeiterschaft zumeist von den akuten Versorgungsproblemen absorbiert gewesen sei, die Wissenschaftler abwarteten, die Künstler überwiegend Zustimmung signalisierten - und jede Gruppe so auf unterschiedliche Weise zur Stabilisierung des Systems beitrug. Die Auswahl der Berücksichtigten offenbart die klare Berlin-Zentrierung der gesamten Überlegungen. Das aber greift zu kurz, denn der Mauerbau betraf die DDR als Ganzes. Zwar finden sich im Buch immer wieder thematische Ausflüge in die Provinz, doch werden beispielsweise die strukturellen wie psychologischen Folgen der Kollektivierung der Landwirtschaft im Vorjahr nicht berücksichtigt. Ganze Dörfer saßen im Sommer 1961 auf gepackten Koffern - wie sich dies auf die Entscheidung zum Mauerbau auswirkte und warum unter diesen Voraussetzungen auch jenseits Berlins kaum Widerspruch laut wurde, muss stärker als bisher in die Analyse einbezogen werden, möchte man das Gesamtphänomen valide erklären.
Schließlich identifiziert der Autor vier Motivbündel, die dazu geführt hätten, dass ein effektives Aufbegehren ausblieb: Angst und Ausweglosigkeit, Unsicherheit und Ungläubigkeit, Gleichgültigkeit und Gewöhnung, Überzeugung und Illusion. Viele der in diesem Kapitel beschriebenen Phänomene sind bekannt, daher sei hier nur auf eines verwiesen, das bisher zu wenig Berücksichtigung gefunden hat: Die Abriegelung West-Berlins war für Zeitgenossinnen und -genossen keineswegs ein neuartiges Phänomen. Sowohl 1948/49 als auch 1953 hatte es sie bereits für einen begrenzten Zeitraum gegeben - und niemand konnte 1961 ahnen, dass es dieses Mal 28 Jahre andauern würde. Im Gegenteil: Vielfach wurde in Ost-Berlin die Meinung vertreten, dass sich eine solche Maßnahme nicht lange durchhalten lassen würde. Man müsse, so die Fehlannahme, einfach nur abwarten. Auch das führte zu einem weitgehend passiven Verhalten der Bevölkerung.
Alles in allem hinterlässt die Lektüre des Buches einen zwiespältigen Eindruck. Erkennbaren Mängeln stehen erfrischende Überlegungen gegenüber. Da wir aber mit dem Blick der letzten 30 Jahre allein nicht mehr weiterkommen werden, da neue Generationen inzwischen ganz neue Fragen stellen und da es dringend neuer Ideen bedarf, sind die Denkanstöße, die das Buch bietet, gerade jetzt sehr willkommen.
Notwendige Nachbemerkung: Glücklicherweise ist der letzte Satz des Buches grundfalsch. Denn wenn es, wie dort behauptet, nur ein einziges Mal in der Geschichte der DDR, im Jahr 1987, einen Massenprotest gegen die Mauer gegeben hätte, dann würde sie noch heute stehen.
Robert Rauh: "Die Mauer war doch richtig!". Warum so viele DDR-Bürger den Mauerbau widerstandslos hinnahmen, Berlin: BeBra Verlag 2021, 208 S., 30 s/w-Abb., ISBN 978-3-89809-193-0, EUR 20,00
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