sehepunkte 22 (2022), Nr. 10

Fabian Michl: Wiltraut Rupp-von Brünneck (1912-1977)

Wiltraut Rupp-von Brünneck war nach Erna Scheffler die zweite Frau in roter Robe am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Bekannt wurde die Verfassungsrichterin durch ihren Einsatz für sozialliberale Reformbemühungen und für die Gleichberechtigung der Geschlechter. Weniger bekannt ist dahingegen, dass sie sich vor 1945 als engagierte "Volksgenossin" positionierte. Den außergewöhnlichen Lebensweg von Wiltraut Rupp-von Brünneck hat Fabian Michl - Juniorprofessor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Leipzig - jüngst in einer umfassenden Biografie nachgezeichnet. In sieben chronologisch angeordneten Hauptkapiteln spürt der Autor den verschiedenen Lebensstationen der späteren Verfassungsrichterin nach.

Nicht unberücksichtigt lässt er dabei die Frage nach der Relevanz von Geschlecht. Gleichwohl ist es ihm ein ernstes Anliegen, nicht nur die Geschichte einer beeindruckenden Frau, sondern die einer erfolgreichen Juristin zwischen Diktatur und Demokratie zu schreiben. In den Mittelpunkt der Studie rücken somit primär das verwaltungsjuristische und richterliche Handeln von Wiltraut Rupp-von Brünneck sowie das von ihr angewandte Rechtsverständnis. Aber auch Netzwerke, soziale Einflüsse und private Ereignisse bezieht Michl in seine Untersuchung mit ein. Sein Versuch ist es, die wichtigsten "Prägekräfte" (458) in der Biografie von Wiltraut Rupp-von Brünneck herauszuarbeiten; darunter versteht er neben Geschlecht die Dimensionen Generation, Milieu und Normenordnungen.

Das Buch beginnt mit der Betrachtung der Jugendjahre Wiltraut von Brünnecks in Preußen. Das uradelige familiäre Umfeld gestaltete sich deutschnational und republikkritisch. Obwohl ihrer Familie einige namhafte Juristen entstammten, war ihre Studienwahl angesichts der vorherrschenden Vorbehalte gegenüber Frauen in juristischen Berufen keineswegs vorgezeichnet. Zudem verschlechterten sich die Berufsaussichten für Juristinnen infolge der nationalsozialistischen Machtübernahme weiter.

Die beiden folgenden Kapitel über ihre Studien- und Berufszeit zeigen jedoch eindrücklich, wie ihr der Einstieg in die juristische Laufbahn trotzdem gelang. Neben exzellenten Leistungen war ihr aktives Eintreten für den Nationalsozialismus Teil des Erfolgskonzepts, wie Fabian Michl anhand einer breiten Quellenbasis nachweisen kann. Bereits ab 1934 engagierte sich Wiltraut von Brünneck in der Arbeitsgemeinschaft Nationalsozialistischer Studentinnen an der Heidelberger Universität. Später publizierte sie Aufsätze im Sinne der NS-Ideologie, wurde Mitglied in der NS-Frauenschaft und trat weiteren NS-Organisationen bei. Nach ihrem Referendariat arbeitete sie für den nationalsozialistisch gesinnten Arbeitsrechtsprofessor Wolfgang Siebert. Anschließend übernahm sie im Reichsjustizministerium die Leitung des Grundbuchreferats. In dieser Funktion verantwortete sie Enteignungen jüdischer Eigentümer.

Dass die Juristin wie viele andere nach 1945 einen demokratischen Wandlungs- und Anpassungsprozess durchlief, beschreibt Fabian Michl im folgenden Kapitel. Bereits im November 1946 gelang ihr in der amerikanischen Besatzungszone ein erfolgreicher Neuanfang, als sie am Landgericht Wiesbaden zur Landgerichtsrätin ernannt und zugleich an das hessische Justizministerium abgeordnet wurde. Als sie die Spruchkammer 1947 als "nicht betroffen" einstufte, stand ihrer Karriere nichts mehr im Wege. Hatte die Juristin wenige Jahre zuvor noch unter führenden NS-Juristen wie Wolfgang Siebert oder Rüdiger Graf von der Goltz gearbeitet, beteiligte sie sich im SPD-geführten Hessen fortan federführend in Zusammenarbeit mit ehemaligen Gegnern des NS-Regimes wie Georg A. Zinn oder Adolf Arndt am demokratischen Neuaufbau. Mit ihrer Abordnung in die Hessische Staatskanzlei und der damit einhergehenden Zuständigkeit für Bundesangelegenheiten avancierte Wiltraut von Brünneck schließlich zur politischen Spitzenbeamtin, die eigene Akzente setzte. Exemplarisch führt Fabian Michl hier die Diskussionen um Frauen betreffendes Recht, den Streit um eine Notstandsverfassung sowie den um ein neues Rundfunkrecht auf.

Eigene Akzente setzte Wiltraut (Rupp-)von Brünneck auch als Richterin am Bundesverfassungsgericht. Beiden Amtszeiten widmet der Autor jeweils ein eigenes Kapitel, deren Unterkapitel nach den wichtigsten Karlsruher Beschlüssen angeordnet sind. Insbesondere in ihrer zweiten Amtszeit attestiert er der Verfassungsrichterin ein großes Engagement für die "Aktualisierung des Sozialstaatsprinzips" (325). Von einigen ihrer Urteile gingen außerdem innovative Impulse für die künftige Rechtsprechung aus. So setzte das sogenannte Lebach-Urteil etwa neue Maßstäbe für den Ausgleich von Rundfunkfreiheit und Persönlichkeitsschutz. Besonders bekannt wurde Wiltraut Rupp-von Brünneck aber für ihre fortschrittlichen Sondervoten: Im Hochschulurteil von 1973 votierte sie gegen die Mehrheitsmeinung der Richterkollegen für mehr Mitbestimmung an deutschen Universitäten. 1974 sprach sie sich in ihrem Sondervotum zum Abtreibungsurteil für eine Reform des Umgangs mit Schwangerschaftsabbrüchen aus. Fabian Michl deutet dies als wichtigen demokratischen Akt, da Wiltraut Rupp-von Brünneck zu einer Identifikationsfigur im Streit um die gesetzliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs avancierte. Nicht zuletzt deswegen gestalteten sich ihre Beziehungen zu den konservativen Kollegen wie Herbert Scholtissek oder dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Gebhard Müller, schwierig. Nicht zuletzt ihre Herkunft, ihre Exzellenz, ihr professionelles Netzwerk und ihr den gängigen Geschlechterstereotypen widersprechendes Auftreten mochten einige ihrer Kollegen eingeschüchtert haben. So zumindest interpretiert der Autor die Karlsruher Beziehungsdynamiken.

Auch das Rechtsverständnis von Wiltraut Rupp-von Brünneck analysiert Fabian Michl in diesen Kapiteln: Die Verfassungsrichterin passte sich dem "verfassungstheoretischen Mainstream der jungen Bonner Republik" (323) an, indem sie ein "wertorientiertes Grundrechteverständnis" (323) im Rahmen einer wirklichkeitsnahen Verfassungsinterpretation vertrat. Im abschließenden Kapitel zieht Fabian Michl ein Resümee. Als roten Faden in der Biografie von Wiltraut Rupp-von Brünneck identifiziert er drei lebensbegleitende Themen (433): Demnach bewegten sie die "Geschlechterfrage" und die "soziale Frage" zeitlebens, wenn auch vor 1945 unter völkischen Prämissen. Die "demokratische Frage" spielte für sie dahingegen erst ab 1946 eine große Rolle; seitdem trat sie engagiert für den Aufbau der Demokratie ein.

Insgesamt gelingt Fabian Michl in seiner Studie eine umfassende historische Einordnung der komplexen Biografie von Wiltraut Rupp-von Brünneck. Dabei reduziert er seine Protagonistin nicht auf die Geschichte einer weiblichen Exotin in einer Männerdomäne, sondern kontextualisiert ihren vielschichtigen Lebensweg unter Einbeziehung verschiedener Perspektiven. Gleichwohl werden manche Leserinnen und Leser eine tiefergehende Einordnung in geschlechterhistorische Forschungskontexte vermissen. Auch fehlen den sehr detailreichen Darstellungen stellenweise Deutungen und Thesen. Im Gegenzug erwartet das Publikum aber ein differenziertes, perspektivenreiches und beinahe akribisch recherchiertes Buch mit anschaulichem Bildmaterial. Und nicht zuletzt erweitert Fabian Michl mit seiner Studie die dünn bestückte Reihe zeithistorischer Frauenbiografien.

Rezension über:

Fabian Michl: Wiltraut Rupp-von Brünneck (1912-1977). Juristin, Spitzenbeamtin, Verfassungsrichterin, Frankfurt/M.: Campus 2022, 558 S., ISBN 978-3-593-51523-6, EUR 39,00

Rezension von:
Elisabeth Perzl
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Elisabeth Perzl: Rezension von: Fabian Michl: Wiltraut Rupp-von Brünneck (1912-1977). Juristin, Spitzenbeamtin, Verfassungsrichterin, Frankfurt/M.: Campus 2022, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 10 [15.10.2022], URL: https://www.sehepunkte.de/2022/10/36581.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.