sehepunkte 22 (2022), Nr. 10

Franziska Maria Meixner: Gesundheitswesen im Großherzogtum Hessen-Darmstadt im 19. Jahrhundert am Beispiel des oberhessischen Hinterlands (bis 1866)

Die "Medizinische Regionalgeschichte" erfährt seit einiger Zeit eine besondere Aufmerksamkeit. Sie erlaubt, wie Andreas Hedwig für die hessische Historische Kommission jüngst zusammenfasste, "vielseitige Perspektiven und Zugänge in überschaubare historische Räume." Dabei gerieten nicht nur lokale Begebenheiten, sondern auch die Agierenden quellennah in den Blick. [1] Dieser Ansatz kann an die allgemeine, insbesondere sozialhistorisch ausgerichtete Regionalgeschichte anknüpfen, wie sie bereits seit mehreren Jahrzehnten etwa beim Landschaftsverband Westfalen in Münster gefördert wird [2], aber auch Studien zu größeren Städten wie Regensburg zeigen die Komplexität der medizinischen Versorgung und bilden daher eine Alternative zur vielfach eindimensionalen, auf die akademischen Ärzte und ihre Publikationen ausgerichtete Medizingeschichte des vergangenen Jahrhunderts. [3] Studien zu Regionen mit einer kleinstädtischen bzw. dörflichen Struktur sind allerdings bislang selten. Die hier zu besprechende Marburger medizinhistorische Dissertation von Franziska Maria Meixner (Betreuung Irmtraut Sahmland) füllt daher eine Lücke und trägt zugleich zu einem differenzierten Gesamtbild der "medizinischen Vergesellschaftung" (Franzisca Loetz) seit der Frühen Neuzeit bei. Gewinn ist aus der Arbeit zudem zu ziehen, da die Autorin angehende Ärztin ist und daher mit besonderem Fachverstand ihre Quellen liest.

Worum geht es in der Studie? Das Untersuchungsgebiet ist das hessische "Hinterland" mit den Städten Biedenkopf, Battenberg und Gladenbach, die zugleich Zentren von drei Physikatsbezirken waren. Die Region gehörte bis 1866 zum Großherzogtum Hessen-Darmstadt und galt bereits im 19. Jahrhundert als "Hinterland", weil es besonders weit von der Residenzstadt entfernt lag. Dessen Bevölkerung war arm, da fruchtbare Böden und Naturschätze ebenso wie durch Gewerbe und Handel prosperierende Städte fehlten. All dies spiegelte sich in dem relativ niedrigen Niveau der medizinischen Versorgung und dem Fehlen von Krankenhäusern. Das großherzogliche Hospital Hofheim (Philippshospital), das insbesondere Geisteskranke versorgte, lag weit ab im südlichen Ried.

Für eine medizinische Regionalgeschichte des frühen 19. Jahrhunderts bieten sich die auch in anderen Fürstentümern üblichen jährlichen Physikatsberichte und medizinischen Topographien als wichtige Quellen in besonderer Weise an. Von den Landesregierungen angefordert, geben die Darstellungen der Amtsärzte jeweils für ihren Bezirk Auskunft über Land und Leute, Krankheiten und Therapien, die ärztlich versorgte Klientel, über Laienheiler sowie nicht zuletzt über die immer wieder auftretenden Epidemien und den Erfolg (oder Misserfolg) der staatlichen Verordnungen. Diese Quellen stehen neben zahlreichen weiteren Dokumenten aus den Staatsarchiven Darmstadt und Marburg im Zentrum von Meixners Studie. Die Analyse macht deutlich, dass sich die Landesregierung um eine flächendeckende Versorgung auch in dieser abgelegenen Region bemühte, aber mit den dafür veranschlagten Mitteln sehr bald an Grenzen stieß. Die Zahl der Ärzte (Allgemeinmediziner und Chirurgen) war für die räumlich großen Einzugsbereiche und die zahlreichen Verwaltungsaufgaben (Aufklärung der Bevölkerung in sanitärer Hinsicht, Bekämpfung von Missbräuchen, Überwachung des medizinischen Personals einschließlich der Hebammen, Bekämpfung von Seuchen, Durchführung von Impfungen und die Gerichtsmedizin) viel zu gering (ein Physikus, weitere Ärzte gab es meist nicht, sollte 10.000 Einwohner versorgen); zudem wurde von den Medizinern, im Unterschied zum Herzogtum Nassau, erwartet, dass sie einen Teil ihres Einkommens durch ihre Privatpraxis erwarben. Letzteres konnte in einer Region nicht gelingen, wo die überwiegend arme Bevölkerung zu den preisgünstigeren Handwerkschirurgen und unautorisierten Heilern oder zur Selbstmedikation Zuflucht nahm und auch den Impfungen (wohl auch wegen unbezahlbarer medizinischer Folgen) skeptisch gegenüberstand. Ohne familiäre Unterstützung, so Meixner, war ein Leben als praktischer Arzt im "Hinterland" kaum möglich. Schon bald bewarben sich viele Mediziner in die wirtschaftlich besser gestellten südlichen Regionen des Großherzogtums. Auch weiteren Plänen der Regierung war im "Hinterland" nur mäßiger Erfolg beschieden. Für den neu geschaffenen Beruf des Krankenwärters zur Entlastung der Ärzte, fanden sich angesichts niedriger Bezahlung kaum Kandidaten. Die Zahl der Apotheken (zumeist eine pro Physikat) blieb ebenso konstant wie die der Hebammen (eine Frau pro Dorf), wobei letztere aber seit 1814 an der Hebammenschule in Gießen ausgebildet wurden. Eine Krankenanstalt gab es im "Hinterland" auch weiterhin nicht. Die Physikatsärzte wurden von der Regierung ausdrücklich aufgefordert, in ihren Berichten Probleme der medizinischen Versorgung zu benennen. Die Forderungen nach einer Vollbesoldung und dem Bau eines Bezirkskrankenhauses blieben jedoch ohne Erfolg.

Besonders detailliert und lehrreich geht Meixner auf die gemeldeten Leiden (rheumatische, Magen-Darm- und Erkältungskrankheiten) sowie Epidemien ein. Exemplarisch werden hier Scharlach, "Nervenfieber" bzw. "Faulfieber" (wohl Typhus) und "Menschenpocken" (Pocken) vorgestellt. Ganz offensichtlich machte "Armut krank", ja führte sogar zu erhöhten Sterberaten, da Angehörige der Unterschichten vielfach auf eine Behandlung verzichteten. Auch geht Meixner davon aus, dass teure Medikamente nur bei Vermögenden eingesetzt wurden. Aufschlussreich sind die Probleme, welche es im "Hinterland" mit der Pockenimpfung gab, welche Teile der Bevölkerung trotz Impfpflicht (1807) und Drohung mit dem Zuchthaus verweigerten. Allerdings erkrankten viele nur an Varioloiden, die bei nachlassendem Impfschutz auftraten und nicht zum Tod führten. Verantwortlich bei der Ausbreitung von Erregern erschienen regelmäßig "Bettlerfamilien" und andere Vagierende.

Im Ergebnis zeigt die Untersuchung, dass das "Hinterland" vor allem aus zwei Gründen keine (im Sinne des frühen 19. Jahrhunderts) medikalisierte, ländliche Region werden konnte: Es handelte sich um eine besonders arme Gegend, die traditionell keine Krankeneinrichtungen besaß und nicht aus eigener Kraft ihre medizinische Versorgung "stemmen" konnte. Diese besondere Lage realisierte die weit entfernte Regierung in Darmstadt offensichtlich nicht oder war nicht bereit, den propagierten Modernisierungsanspruch auch finanziell zu tragen. Inwiefern die Bevölkerung im "Hinterland" tatsächlich auch insofern "hinterwäldlerisch" war, als sie Vorbehalte gegen die "Schulmedizin" (282) hatte und sich dem Wandel verschloss, scheint der Rezensentin aber noch nicht genügend nachgewiesen, insbesondere da die Studie die Zeit vor dem Paradigmenwechsel zur naturwissenschaftlichen Medizin behandelt. Noch spielte die naturphilosophische Tradition der Antike, die Humorallehre, eine bedeutende Rolle, sodass die physiologischen Vorstellungen von Ärzten und medizinischen Laien eher nicht differierten. Vergleichsstudien können hier weitere Einsichten erbringen, eine Perspektive, welche die Autorin auch selbst benennt.

Insgesamt kann die anregende, flüssig geschriebene und sehr sorgfältig aus dem Quellenbestand erarbeitete Studie von Franziska Maria Meixner auch über die Medizingeschichte hinaus einer Regionalgeschichte empfohlen werden, welche den kranken Menschen noch zu selten in den Blick nimmt.


Anmerkungen:

[1] Gerhard Aumüller / Andreas Hedwig (Hgg.): Regionale Medizingeschichte. Konzepte - Ergebnisse - Perspektiven. (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, 92), Marburg 2022.

[2] Thomas Küster (Hg.): Medizin und Gesundheit in der Sozialgeschichte. (= Westfälische Forschungen, 64), Münster 2014.

[3] Artur Dirmeier (Hg.): Organisierte Barmherzigkeit. Armenpflege und Hospitalwesen in Mittelalter und Früher Neuzeit. (= Studien zur Geschichte des Spital-, Wohlfahrts- und Gesundheitswesens, 1), Regensburg 2010.

Rezension über:

Franziska Maria Meixner: Gesundheitswesen im Großherzogtum Hessen-Darmstadt im 19. Jahrhundert am Beispiel des oberhessischen Hinterlands (bis 1866) (= Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte; 188), Darmstadt: Hessische Historische Kommission Darmstadt 2022, VIII + 328 S., 50 Abb., ISBN 978-3-88443-343-0, EUR 28,00

Rezension von:
Christina Vanja
Kassel
Empfohlene Zitierweise:
Christina Vanja: Rezension von: Franziska Maria Meixner: Gesundheitswesen im Großherzogtum Hessen-Darmstadt im 19. Jahrhundert am Beispiel des oberhessischen Hinterlands (bis 1866), Darmstadt: Hessische Historische Kommission Darmstadt 2022, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 10 [15.10.2022], URL: https://www.sehepunkte.de/2022/10/36837.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.