sehepunkte 23 (2023), Nr. 3

Heinz Dieter Haupt: Deutschlands Weg zur Bombe

Zu den großen Rätseln des Dritten Reichs zählte die Frage nach einer möglichen nuklearen Bewaffnung NS-Deutschlands. Zu Kriegszeiten waren die Sorgen davor groß, und die Initiierung des Manhattan Projects zur Entwicklung von Nuklearwaffen in den USA stand damit im direkten Zusammenhang. Doch bald nach dem Krieg wurde Entwarnung gegeben. Weder materiell noch intellektuell schienen die Voraussetzungen für ein ernst zu nehmendes Kernwaffenprojekt im Dritten Reich gegeben gewesen zu sein. Es sollte fünf Jahrzehnte dauern, bis diese Sichtweise ins Wanken geriet. Gleich mehrere Historiker legten Anfang der 2000er Jahre neue Belege für ein sehr viel umfangreicheres deutsches Atomwaffenprogramm vor - Atomtests und Interkontinentalraketen inklusive.

Heinz Dieter Haupt, laut Ankündigungstext des Verlags Physiker, versucht nun, mit seinem voluminösen Werk einen neuen Beitrag zu diesem heißen Thema zu leisten. Mit knapp 800 Seiten verlangt das Buch dem Leser einiges ab, und zwar nicht nur was den Umfang, sondern auch was den Inhalt angeht, versucht sich Haupt doch an einer möglichst (natur-)wissenschaftlichen Einordnung der verfügbaren Quellen und Belege, die er in neun Kapiteln akribisch zusammenträgt.

Gleich zu Beginn lernt der Leser viel über die kernphysikalischen und technischen Grundlagen, auf denen Nuklearwaffen aller Art basieren. Ein entsprechender naturwissenschaftlicher Hintergrund ist hier extrem hilfreich. Die prinzipielle Funktionsweise von Kernspaltungsbomben ist heute allgemein bekannt. Die technische Herausforderung besteht darin, eine kritische Masse an Spaltstoff schnell genug zu vereinigen, um eine Spaltungskettenreaktion auszulösen. Fusionsbomben wiederum erzeugen ihre noch weit höhere Sprengkraft durch die extreme Komprimierung geeigneter Brennstoffe, was wiederum nur durch eine auslösende Spaltungsbombe erreicht werden kann.

Im Fokus des Autors steht aber eine weniger bekannte Zwischenform, die fusionsverstärkte Spaltungsbombe, in Fachkreisen auch geboostete Atombombe genannt. Hierbei wird die Sprengwirkung nicht etwa durch Fusionsenergie verstärkt. Die Fusionsreaktionen erhöhen vielmehr den Neutronenfluss und induzieren zusätzliche Spaltungen. Ziel ist dabei neben der Erhöhung der Sprengkraft vor allem die Verringerung der kritischen Masse an Spaltstoff. Diese Eigenschaft der geboosteten Bombe macht sie zum wahrscheinlichsten Anwärter für das deutsche Atomprogramm - zur Atombombe des "armen Mannes". In der Tat kann Haupt im nächsten Kapitel belegen, dass gleich mehrere Arbeitsgruppen im Nachkriegsdeutschland an diesem Konzept forschten und ganz offensichtlich auf vorherigen Ergebnissen aufbauen konnten.

Die Entwicklungen in der Kernphysik vor und während des Dritten Reiches werden von Haupt im Anschluss detailliert dargelegt. Die dabei zu Tage tretende starke Verflechtung der Aktivitäten verschiedener Akteure im Dickicht der zahlreichen Stellen in Militär, Regierung, Partei und SS folgte dabei einem Muster, das durchaus ambitioniertere Ziele als die reine Reaktorentwicklung vermuten lässt.

Besonders mühsam liest sich das Kapitel über die mysteriösen unterirdischen Anlagen, die mit furchtbaren Opferzahlen unter den Zwangsarbeitern gegen Ende des Zweiten Weltkrieges im Thüringer Wald ausgeschachtet wurden. Hier versucht Haupt wieder den Rundumschlag, verfällt in eine zunehmend bergmännische Fachsprache und stellt Vergleiche mit einer Vielzahl ähnlicher Anlagen im Reichsgebiet an. Das Fazit bleibt hier etwas unklar. Haupt spricht nicht wie andere vor ihm von einem "Thüringer Manhattan Project". Er zeigt aber immerhin auf, dass die behauptete Verwendung als weiteres Führerhauptquartier sehr viel weniger schlüssig erscheint als die Intention, dort ein großes technisches Entwicklungszentrum zu errichten.

Der geduldige Leser wird im letzten großen Kapitel des Buches dann doch mit einigen sehr bemerkenswerten Erkenntnissen konfrontiert. Hier geht es um die angeblichen Kernwaffenversuche im Thüringer Wald sowie den ebenso unklar belegten Test einer Trägerrakete mit langer Reichweite auf der Basis der V2 in den letzten Monaten des Weltkrieges. Auch hier stellt Haupt alle verfügbaren Indizien vor: Geheime Quellen aus den USA und der Sowjetunion, Augenzeugenberichte und schließlich sogar Bodenproben von einem Truppenübungsplatz in Ohrdruf - dem angeblichen Ground Zero für zwei Testexplosionen geboosteter, unterkritischer Spaltungsbomben.

All dies wurde bereits an anderer Stelle veröffentlicht und kontrovers diskutiert, doch die von Haupt unternommene Einordnung ist teilweise durchaus erhellend. Ein originärer Beitrag des Physikers besteht etwa in einem alternativen Bombenkonzept, dass nicht auf den herkömmlichen Spaltstoffen Uran-235 oder Plutonium beruht, sondern auf dem kaum bekannten Isotop Neptunium-237, dass aufgrund seiner kurzen Halbwertszeit bislang eher unverdächtig erschien. Der von Haupt vorgeschlagene Bauplan zeigt nicht nur deutlich, wie viele Wege zur Bombe führen, sondern ähnelt auch frappierend dem in einem geheimen Protokoll des sowjetischen Geheimdienstes GRU enthaltenen Plan der angeblichen deutschen Atombombe.

In der Gesamtschau präsentiert Heinz Dieter Haupt eine gewaltige Stoffsammlung zu einem Thema, dass ihm ganz offensichtlich sehr am Herzen liegt. Das Buch enthält wenig wirklich Neues und gründet sich nicht auf Primärquellen, sondern sammelt und bewertet die umfangreiche Literatur zu dem Thema in enzyklopädischem Detail. Bei manchen Interpretationen schießt Haupt etwas über das Ziel hinaus, und auch der Sprachstil ist zuweilen gewöhnungsbedürftig, vor allem wenn der Autor die ihm vertraute wissenschaftlich-technische Ebene verlässt. Die im Titel aufgeworfene Frage, ob es sich bei der deutschen Atombombe nun um eine Chimäre oder die Realität handelt, kann auch er nicht eindeutig beantworten. Allerdings gewinnt der Leser schon den Eindruck, dass das letzte Wort zu diesem Thema wahrscheinlich noch nicht gesprochen ist, entscheidende Hinweise in Archiven schlummern und es irgendwann nochmal richtig spannend werden könnte.

Rezension über:

Heinz Dieter Haupt: Deutschlands Weg zur Bombe. Chimäre oder Realität? Vom Dritten Reich bis zur Bundesrepublik. Die Geschichte alternativer Kernwaffenentwicklungen in Deutschland im Kontext der internationalen Forschung, München: Utz Verlag 2022, 810 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-8316-2328-0, EUR 55,00

Rezension von:
Stephan Geier
Institut für Physik und Astronomie, Universität Potsdam
Empfohlene Zitierweise:
Stephan Geier: Rezension von: Heinz Dieter Haupt: Deutschlands Weg zur Bombe. Chimäre oder Realität? Vom Dritten Reich bis zur Bundesrepublik. Die Geschichte alternativer Kernwaffenentwicklungen in Deutschland im Kontext der internationalen Forschung, München: Utz Verlag 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 3 [15.03.2023], URL: https://www.sehepunkte.de/2023/03/37514.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.