Der schmale Band über "Polizei und Homosexuelle in der Weimarer Republik" des Berliner Historikers Jens Dobler bietet für Leser, die mit der Geschichte der Homosexualitäten in Deutschland noch wenig vertraut sein sollten, manche Überraschung. Dass die Weimarer Republik ein Höhepunkt homosexueller Emanzipationsbestrebungen gewesen ist, der in Deutschland erst ab den 1970er Jahren allmählich überboten werden konnte, ist hinlänglich bekannt - auch wenn Historiker immer wieder Wasser in den Wein der vermeintlich so "goldenen" 1920er Jahre zu gießen haben. So hat Laurie Marhoefer die Ambivalenzen der Weimarer Republik im Umgang mit nicht-heterosexueller Sexualität eindrucksvoll aufgezeigt. [1] Und Robert Beachy hat die vermeintliche Aufgeschlossenheit der Weimarer Ära überzeugend dadurch relativiert, dass er deren Vorgeschichte im Kaiserreich ins Gedächtnis gerufen hat; insbesondere eine bemerkenswert tolerante Politik der Berliner Polizei gegenüber der dortigen Homosexuellen-Szene war schon um 1900 gegeben und nicht erst um 1930. [2]
Folgerichtig stellt denn auch Jens Dobler fest: "In den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts erhielten Berlins Homosexuelle einen Bundesgenossen [...], mit dem sie wohl am wenigsten gerechnet hatten: die Polizei." (7). Für diese Strategie der Toleranz und Kooperation bringt die Studie Doblers etliche Belege. Dobler zeigt, dass die polizeiliche Toleranz durchaus Ambivalenzen und auch Grenzen hatte, und dass sich im Laufe der 1920er Jahre gegenteilige Tendenzen geltend machen konnten. Insofern wird man den Untertitel des Buches dialektisch zu deuten haben: Einerseits trug die Polizei zur diskursiven Konstruktion eines homophoben Feindbilds bei (gefährliche Cliquen, Jugendverführer, Prostitution), andererseits aber auch zur strukturellen Konstruktion von homosexuellen Freiräumen.
Das Buch hat eine chronologische Abfolge, die oft biografisch personalisiert wird. Es geht nicht nur um die beiden Dezernatsleiter Heinrich Kopp (1911-22) und Bernhard Strewe (1922-33), sondern um weitere herausragende Kriminalisten - beginnend mit Kopps königlich-preußischem Vorgänger Hans von Tresckow, der mit Sexualreformern wie Magnus Hirschfeld gut kooperierte, zugleich aber mit seinen Memoiren 1922 den Weimarer Homosexuellen-Diskurs nachhaltig vergiftete. Tresckows skandalträchtiges Outing des letzten kaiserlichen Reichskanzlers Prinz Max von Baden wird von Dobler gar nicht erwähnt, anders als das von ihm bekräftigte homophobe Stereotyp staatsgefährdender "Cliquenbildung" (49). Doch Dobler zeigt auch, dass Tresckow in den späteren 1920er Jahren den Kampf der Homosexuellen-Bewegung gegen den § 175 StGB rückhaltlos unterstützte; sichtlich zufrieden stellt der Verfasser fest, Tresckow sei damit "in der Weimarer Republik angekommen" (54).
In welcher? Dass diese Republik keineswegs eindeutig pro-emanzipativ gewesen ist und Kriminalisten in diesem Staatswesen folglich auch ganz anders ankommen konnten, machen Doblers Beobachtungen zum Dezernatsleiter Bernhard Strewe deutlich: Dieser habe sich immer stärker der Rhetorik der christlich-konservativen "Sittlichkeitsvereine" angepasst und 1929 - im Gegensatz zu einer knappen Mehrheit des zuständigen Reichstags-Ausschusses - nicht nur die Aufrechterhaltung, sondern sogar die verschärfende Ausgestaltung des Homosexuellen-Strafrechts gefordert. Was all die wilhelminischen und Weimarer Dezernatschefs als Verfechter von Toleranzpolitik nie geschafft hätten, habe ausgerechnet ihr konservativer Nachfolger erreicht: "Strewe wurde als polizeilicher Sachverständiger im Strafrechtsausschuss gehört. Er forderte dort ein Schutzalter von 21 Jahren, da sich die erwachsenen Homosexuellen besonders gern an Minderjährige heranmachten und die Triebrichtung in diesem gefährlichen Alter leicht in die falsche Richtung gelenkt werden könne." Mit solchen Haltungen prägte der Experte die Entscheidungen des Ausschusses mit (174). Dieser wollte zwar einvernehmliche Homosexualität zwischen Erwachsenen straffrei stellen, räumte aber zugleich dem Schutz männlicher Jugendlicher vor Verführung durch Homosexuelle erstmals in der deutschen Rechtsgeschichte einen herausragenden Stellenwert ein.
Begrüßenswert ist daher der Umstand, dass Dobler seine Chronologie in einigen Kapiteln verlässt, um ausgewählte Sachthemen zu berühren: Besonders wichtig ist der Abschnitt über "die Alters- und Schutzaltersfrage oder die Erfindung des Homosexuellen als Kinder- und Jugendverführer". Denn nicht erst der Reichstagsausschuss, schon der prominente Sexualwissenschaftler Albert Moll hatte um 1920 eine Kombination der Freigabe von Erwachsenen-Homosexualität mit harter Bestrafung der Verführung Jugendlicher gefordert; Moll hätte die Schutzaltersgrenze gern bis ins 30. Lebensjahr ausgedehnt. Dobler weist auch auf die Negativwirkung des aufsehenerregenden Kriminalfalls des Massenmörders Friedrich Haarmann 1924 hin. Dieser habe zu verschärfter Strafverfolgung homosexueller Sexualhandlungen 1925/26 geführt, und auch danach sei die Strafverfolgung quantitativ höher als im Kaiserreich geblieben.
Weniger überzeugend ist der kurze Abschnitt "Rauchfangswerder was a riot", der eine Massenschlägerei zwischen Homosexuellen und Polizei mit den später ikonisch gewordenen New Yorker Krawallen in der Christopher Street 1969 in Verbindung bringen möchte, obschon sich die Folgewirkungen beider Ereignisse diametral unterscheiden. Die "Skandalszenen in der Komischen Oper" von 1927 sind interessanter - namentlich mit Blick auf interne Auseinandersetzungen in der Berliner Schwulenszene, in der unvereinbare Männlichkeits-Vorstellungen anhand theatralischer "Tunten"-Klischees aufeinanderprallten. Auch das etwas ausladende Kapitel zur "Zensur homosexueller Schriften" enthält interessante Details, wenn auch keine klare These; auch in diesem Falle erwies sich die "Homosexuellenbewegung" - diesmal in ihrer Haltung zum homophoben Schmutz- und Schundgesetz von 1926 - als zutiefst zerstritten.
Schließlich diskutiert Dobler "das Ende der Freiheit" in den Krisenjahren 1932/33. Hier hätte man sich gelegentlich eine präzisere Darstellung gewünscht - etwa wenn es heißt: "Im Laufe des Jahres 1933 wurden fast alle Berliner Homosexuellenlokale geschlossen." (189). Weshalb nur "fast alle" und nicht alle? Welche nicht, und weshalb nicht? Waren die Schließungen dauerhaft oder konnten manche Lokale später wieder geöffnet werden? "Vermutlich unterlag vieles der Willkür der SA", glaubt Dobler (189) und dürfte damit richtigliegen. Aber dann müsste die Rolle der SA - die 1933/34 mit Stabschef Ernst Röhm und dem Berliner Gruppenführer Karl Ernst eine homosexuelle Führungsspitze hatte - umso genauer beleuchtet werden. Bekanntlich blieb ein einschlägiges Lokal in Berlin-Kreuzberg nach 1933 von Schließung verschont, weil Röhm selbst darin Stammgast war, und auch nach dessen Ermordung konnte dieser Treffpunkt durch gute Kontakte der Wirtin zur NS-Reichsfrauenführerin überleben. An anderer Stelle hat Dobler nicht nur die Willkür der SA hervorgehoben, sondern auch das parallele Vorgehen des neuen NS-Polizeipräsidenten bei Lokalschließungen, womit die NS-Polykratie sehr viel genauer umrissen wäre als im vorliegenden Band.
Insgesamt aber bietet Jens Dobler einen knapp und flüssig geschriebenen guten Überblick über das ambivalente, tendenziell jedoch über weite Strecken tolerante Verhältnis zwischen Polizei und Homosexuellen zwischen 1911 und 1933. Namentlich Leiter und Mitarbeiter des Homosexuellen-Dezernats der Berliner Kriminalpolizei tolerierten die Homosexuellen-Szene der Stadt und fokussierten repressive Bestrebungen überwiegend auf die Bekämpfung junger männlicher Prostituierter - woran die sozialdemokratische Polizeiführung West-Berlins in den 1950er Jahren übrigens wiederanknüpfte. Hinsichtlich der Nutzlosigkeit des § 175 StGB waren sich diese führenden Kriminalbeamten mit der Emanzipationsbewegung weitgehend einig; allerdings schloss der letzte Weimarer Dezernatschef Strewe zugleich die Reihen mit der konservativen Sittlichkeitsbewegung, wenn es um strafrechtlich hochzurüstenden Jugendschutz gegen angebliche homosexuelle Jugendverführer ging. Doblers Buch bietet keinen Gesamtüberblick, auch wenn er seinem Berliner Forschungsschwerpunkt einige Impressionen aus Hamburg oder Sachsen hinzufügt. Aber er vermag überzeugend zu zeigen, wie differenziert und zugleich wie kompliziert das Verhältnis der Weimarer Polizei zu Homosexuellen gewesen ist. Dasselbe gilt für das zwiespältige Verhältnis der letzteren zu Selbst- oder Fremdzuschreibungen. Die "Konstruktion des Sündenbabels" fand somit nicht nur durch die Mehrheitsgesellschaft und deren Organe statt, etwa durch die Kriminalpolizei; diese Konstruktion erfolgte ebenso durch die konfliktreichen Diskurse der Homosexuellen selbst.
Anmerkungen:
[1] Laurie Marhoefer: Sex and the Weimar Republic. German Homosexual Emancipation and the Rise of the Nazis, Toronto u.a. 2015.
[2] Robert Beachy: Das andere Berlin. Die Erfindung der Homosexualität. Eine deutsche Geschichte 1867-1933, München 2015.
Jens Dobler: Polizei und Homosexuelle in der Weimarer Republik. Zur Konstruktion des Sündenbabels (= Reihe ZeitgeschichteN; Bd. 22), Berlin: Metropol 2020, 224 S., ISBN 978-3-86331-519-1, EUR 19,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.