In der Einleitung nennt Christopher Clark die zentralen Botschaften seines neuen Werkes: Erstens, 1848/49 ereignete sich "die einzige wahrhaft europäische Revolution der Geschichte" (9), und sie wirkte über Europa hinaus. Zweitens, "die Revolutionen von 1848 sind in Wirklichkeit nicht gescheitert" (13). Drittens, die Revolutionen geschahen gleichzeitig, aber sie waren von einer "verwirrenden Vielfältigkeit" (17). Er spricht von der europäischen Revolution im Singular - sie sollte im Rückblick nicht, wie so oft geschehen, nationalisiert werden - und von den Revolutionen in ihrer Vielfalt. Viertens, "Es gab keine binäre Spaltung, sondern eine Fülle von Rissen, die in alle Richtungen verliefen." (23) Alle politischen Kräfte veränderten sich, die neuen und auch die alten, und alle waren an der Gestaltung der Ergebnisse beteiligt. Die Konterrevolutionäre waren erfolgreich, weil sie staatenübergreifend militärisch zusammenarbeiteten, Rückhalt in der Bevölkerung fanden und weil sie aus den Revolutionen lernten, indem sie, so heißt es in der Schlussbilanz, eine "postrevolutionäre Synthese" (1016) ermöglichten.
Gut ein Drittel der Textseiten sind der vorrevolutionären Zeit gewidmet. Die 48er Revolution beginnt erst auf Seite 371 mit dem Kapitel 4 "Explosionen". So erzeugt Clark die Vorstellung einer notwendigen Revolution, ohne sie als zwangsläufige Folge von politischen Blockaden, widerstreitenden Ordnungsvorstellungen und sozialen Problemen auszuweisen. Der lange Anlauf auf 1848 zu umfasst auch eine Kurzgeschichte der 1830er Revolutionen.
Clark entfaltet sein Revolutionsbild aus den Erzählungen von Zeitgenossen; unter ihnen viele Frauen. Mit ihren Stimmen erzählt er farbig und ereignisprall. Die Analyse kommt keineswegs zu kurz, doch sie soll aus der "Fülle persönlicher Zeugnisse" hervorgehen, um nachvollziehen zu können, wie die Akteure miteinander und auch aneinander vorbei sprachen und handelten (25). Clark will die Emotionen vermitteln, welche die Wahrnehmungen und das Handeln aller Gruppierungen, auch der Gegenrevolutionäre, geprägt haben. Das macht er gesamteuropäisch; selbst die Ionischen Inseln, die in europäischen Überblicken selten auftauchen, werden berücksichtigt. Hier griff die britische Politik offen gegenrevolutionär ein, während sie in der Endphase der Revolution durch Passivität die Koalition der gegenrevolutionären Mächte stützte. Die Fülle der zeitgenössischen Berichte, die Clark aus nahezu allen Staaten zusammenträgt und zu Wort kommen lässt, ist beeindruckend. Er betrachtet alle europäischen Staaten, und die meisten sind mit Quellen in ihren Sprachen präsent. Selbst ein finnischer Kommentar wird zitiert. So entsteht ein vielstimmiges und auch vielsprachiges Bild voller Ähnlichkeiten und Widersprüche im Europa der beiden Revolutionsjahre. Das erleichtert es den Leserinnen und Lesern nicht, sich ein klar konturiertes Bild von denen zu machen, die damals redeten, schrieben und handelten, welche Ziele sie verfochten und wie sie versuchten, diese durchzusetzen. Clark schreibt bewusst gegen ein solches vereinfachendes Bild, denn er will zeigen, dass es dem "Archipel aus Argumenten und Gedankenketten" (23), in dem sich die Europäer in den Revolutionsjahren zurecht finden mussten, nicht gerecht würde. Er will der damaligen "verwirrenden Vielfältigkeit", die von der "unvorhersehbaren Interaktion so vieler Kräfte" (17) noch verstärkt worden ist, nur in Maßen ein retrospektives Ordnungsmuster abgewinnen. Ein Grund dafür ist, dass er auf Parallelen aufmerksam machen will, die er zwischen damals und heute sieht. An vielen Stellen seines Werkes baut er Vergleichshinweise ein. Obwohl er sie nicht systematisch ausführt, sind sie ihm doch so wichtig, dass er sein Werk mit dem Hinweis schließt, er habe das "Gefühl", "die Menschen von 1848 könnten sich in uns wiederfinden", weil wir in einer ähnlichen "'Polykrise'" leben und in unseren Reaktionen darauf ebenso unsicher seien, wie die Menschen damals (1024).
Mit seinen assoziativen Vergleichen mit Problemen der Gegenwart baut Clark dem Eindruck vor, man könnte seine Erfolgsgeschichte der Revolution einer europäischen "Whig Interpretation of History" (Herbert Butterfield) zuordnen. Er fragt (wie andere vor ihm), wie man den Erfolg oder das Scheitern einer Revolution messen könnte. Seine Antwort lautet: an ihren Wirkungen. Wirkungszuschreibungen sind methodologisch heikel. Clark sieht das, wenn er darauf hinweist, dass mit der geographischen Entfernung von Europa die "Metapher 'Einfluss'" an Präzision verliere. In den glänzenden Abschnitten "Schwarzes 1848" und "1848 global" berücksichtigt er das und legt dar, wie kreativ diejenigen, welche die Nachrichten aus Europa aufnahmen, sie auf ihre Verhältnisse bezogen und in eigene Forderungen umsetzten. Doch wenn es um zeitliche Distanz zum Geschehen geht, wenn also die Nachgeschichte befragt wird, ist schwieriger zu bestimmen, was auf die Erfahrungen von 1848 zurückgehen mag und als deren Nachwirkung angenommen werden kann.
Zu den Revolutionserfahrungen gehörte auch das Scheitern. Darauf wird man beharren müssen. Wer in Deutschland, Italien und Dänemark einen Nationalstaat oder in der Habsburgermonarchie nationale Autonomien oder gar einen eigenen Staat (Ungarn) erzwingen wollte, ist gescheitert. Insofern ist es angemessen von gescheiterten Revolutionen zu sprechen. Aber es genügt nicht. Denn diese Revolutionen erzeugten mit dem, was ihnen in ihrer Zeit, den Jahren 1848 und 1849, gelungen und misslungen war, Erfahrungen, welche die Nachgeschichten in hohem, aber schwer präzise zu bestimmendem Maße geprägt haben. Dafür hat Alexandra Bleyer kürzlich eine treffende Formulierung gefunden: "1848. Erfolgsgeschichte einer gescheiterten Revolution". [1] Man kann dieses Bild, das Scheitern und Erfolg nicht als sich ausschließende Gegensätze entwirft, aber präzisieren. So europäisch verschlungen das Revolutionsgeschehen war und wahrgenommen wurde - die Nachgeschichten sind stärker in nationalen Bahnen verlaufen, und die Nationalstaatsgründungen, die nachholten, was 1848 nicht erreicht werden konnte, waren angewiesen auf Kriegen unter europäischen Staaten. Das hat zur retrospektiven Nationalisierung in der Geschichtsschreibung zu den Revolutionen von 1848/49 beigetragen.
Dieser nationalisierenden Verengung stellt sich Clark entgegen. Er entwirft ein Europa, das durch die Revolution zu einem Kommunikations- und Handlungsraum zusammenwuchs. Revolutionäre und Gegenrevolutionäre aller Richtungen waren daran beteiligt. Es gab Gewinner und Verlierer. Wer 1848/49 seine Ziele nicht durchsetzen konnte, musste zum Teil lange ausharren, bis die revolutionären Impulse doch noch zum Erfolg führten. Am längsten mussten Frauen und Sklaven warten, wie Clark betont. Welche Bedeutung den Erfahrungen von 1848 bei den späten Erfolgen zukamen, ist allerdings schwer zu ermitteln. Eindeutig hingegen ist, dass der "Nationalismus [...] das am weitesten verbreitete, emotional intensivste und ansteckendste Phänomen der Revolutionen" (736) wurde. Clark bestimmt ihn in seinen solidarisierenden und abgrenzenden Wirkungen als "etwas ganz Neues" (736). Auch dies ein Erbe der Revolution von 1848/49. In Clarks großem Werk lassen sich die Revolutionen und ihre Wirkungen in all ihrer widerspruchsvollen Komplexität betrachten.
Anmerkung:
[1] Alexandra Beyer: 1848. Erfolgsgeschichte einer gescheiterten Revolution, Stuttgart 2022.
Christopher Clark: Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, Klaus-Dieter Schmidt und Andreas Wirthensohn, München: DVA 2023, 1164 S., 57 s/w-Abb., ISBN 978-3-421-04829-5, EUR 48,00
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