sehepunkte 24 (2024), Nr. 1

Ilko-Sascha Kowalczuk: Walter Ulbricht

Ilko-Sascha Kowalczuk tritt mit dem Anspruch an, "immer wieder gewohnte Ulbricht-Bilder" zu dekonstruieren (18). Er habe, so schreibt er in der Einleitung dieses voluminösen, ersten Bandes seiner Biographie, einen Ulbricht entdeckt, den er "bislang nicht kannte" (14). Was ist also neu an dem Porträt Kowalczuks gegenüber den herkömmlichen Biographien dieses kommunistischen Parteifunktionärs, der einmal der mächtigste Mann in der DDR werden sollte?

Die Biographie ist auf einer ungewöhnlich breiten Quellengrundlage verfasst. Da es einen aussagekräftigen Nachlass mit Tagebüchern, persönlichen Briefen und ähnlichen "Ego-Dokumenten" nicht gibt, hat der Autor alle erdenklichen deutschen und ehemals sowjetischen Quellen gesichtet, in denen Ulbricht seine Spuren hinterlassen hat. Damit ordnet er den späteren Diktator umfassend in seine Zeit ein, insbesondere in die kommunistischen Organisationen, in denen dieser tätig war und eine scheinbar unaufhaltsame Karriere machte.

Hineingeboren in einen sozialdemokratischen Arbeiterhaushalt in Leipzig, absolvierte er nach seiner Schulzeit eine Tischlerlehre und kam schon früh zur Arbeiterbewegung. Dabei erwies er sich als geradezu bildungsbesessen, insbesondere, aber nicht nur in der Aneignung der marxistischen Lehre. Nachdem er den Ersten Weltkrieg unbeschadet überstanden hatte, wurde die Novemberrevolution "das wichtigste politische Ereignis in seiner gesamten Biographie" (134). Er gehörte zu den KPD-Gründern in Leipzig und sollte fortan immer mit dieser Partei verbunden bleiben, seit 1921 auch als bezahlter Funktionär. Er war zwar vom Sieg der Arbeiterklasse überzeugt, aber ihm war von Anfang an bewusst, dass dieser Sieg organisiert werden musste.

Bereits in der Zeit der Weimarer Republik war es sein großes organisatorisches Talent, verbunden mit Fleiß und eiserner Disziplin, das ihm den Weg in führende Positionen ebnete. Ab 1921 leitete er die KPD-Organisation in Thüringen, insbesondere über regelmäßige Rundschreiben, 1923 stieg er in die Berliner Parteiführung auf. In der Partei setzte er alles daran, deren Organisation mittels einer Personalkartei aufzubauen, so dass seine Gegner ihn "Kartothekowitsch" (390) nannten; sein Ehrgeiz, flächendeckend KPD-Betriebszellen einzurichten, brachte ihm den Spitznamen "Genosse Zelle" (263) ein. In der Weimarer Zeit machte er vor allem zwei wichtige Erfahrungen: Zum einen musste er aufgrund polizeilicher Ermittlungen gegen ihn als Organisator von Umsturzversuchen immer wieder in die Illegalität abtauchen - einer Vollstreckung eines Haftbefehls entging er 1930, da er als sächsischer Landtags- und Reichstagsabgeordneter (seit 1926 beziehungsweise 1928) Immunität genoss. Zum anderen sammelte er seit 1922 immer wieder, verstärkt 1928/29, Erfahrungen mit dem Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI), dem Zentrum der Weltrevolution in Moskau. Dort wurde zunächst Lenin, später Stalin sein großes Vorbild. 1927 stieg er, nicht zuletzt aufgrund seiner Verbindungen nach Moskau, in den "Inner Circle" der Partei auf, als er ZK-Sekretär und Pol.-Büro-Kandidat wurde; 1928 erfolgte seine Wahl ins Pol.-Sekretariat des EKKI. Es war daher nur konsequent, dass er 1929 die Führung des größten KPD-Bezirks (Berlin-Brandenburg-Lausitz-Grenzmark) übernahm. In der Partei hatte Ulbricht in Thälmann einen mächtigen Fürsprecher; nachdem die sogenannte Thälmann-Affäre ausgestanden war, wurde er wiederum dessen wichtigster Mann in Moskau.

Ausführlich schildert Kowalczuk die parteiinternen Fraktionskämpfe, die Ulbricht fast immer siegreich überstand. Zugute kamen ihm dabei seine Moskauer Verbindungen und der Umstand, dass er sich als "Apparatschik par excellence" (450) immer im Dienst befand und daher stets besser informiert war als andere. Allerdings sah er genauso wenig wie seine Mitstreiter voraus, dass sich mit der Machtübertragung an die Nationalsozialisten die Verhältnisse in Deutschland grundlegend wandeln würden, nicht zuletzt für die Arbeit der KPD. Er verhielt sich zwar weniger leichtsinnig als andere Genossen, so dass er nicht verhaftet wurde. Auf Anordnung der Komintern verließ er indes Deutschland im Oktober 1933 und ging nach Prag.

In den folgenden Jahren stieg er weiter in der Partei auf und passte seine Linie flexibel dem neuen, von Moskau vorgegebenen Kurs an: Hatte er in der Weimarer Republik die Sozialdemokraten als "Sozialfaschisten" beschimpft und bekämpft, war er nun darauf aus, eine Aktions- und Einheitsfront mit der SPD und darüber hinaus eine Volksfront aller Hitlergegner zu bilden. Die stalinistische Terrorwelle ab 1936 machte diesen Bestrebungen freilich den Garaus, da die Sozialdemokraten sich in ihren Vorbehalten gegenüber den Kommunisten durch sie bestätigt sahen. Zwischen 1934 und 1937 versuchte Ulbricht von Prag und Paris aus die Aktivitäten der KPD in Deutschland anzuleiten - allerdings mussten die Aufrufe, Streiks zu organisieren, sich zu bewaffnen und Hitler zu stürzen, scheitern, da sie die in Deutschland unter den Nationalsozialisten geschaffenen neuen Realitäten völlig verkannten.

Anfang 1938 erlebten Ulbricht und die KPD den Tiefpunkt ihrer Entwicklung. Eine Kommission des EKKI in Moskau lastete ihm an, versagt zu haben. Der Ulbricht-Gegner Wilhelm Florin witterte Morgenluft, konnte seinen Rivalen aber letztlich nicht verdrängen. Ein Parteiverfahren wurde abgewendet, Ulbricht ging auch aus dieser Auseinandersetzung gestärkt hervor und wurde nun neben Wilhelm Pieck "der wichtigste Exekutor Moskauer Vorgaben" (628). Trotz seiner überragenden Bedeutung für die Partei gerieten Ulbricht und seine Partnerin Lotte Kühn 1936 bzw. 1939 im Zuge der groß angelegten Säuberungswelle gegen sowjetische und ausländische Kommunisten auch ins Visier des NKWD - Kühn kam mit einer Rüge davon (die 1939 wieder gestrichen wurde), und Ulbricht blieb völlig ungeschoren: Er hatte es "zu einer gewissen Meisterschaft gebracht, nicht unterzugehen" (683-684).

Ulbricht konnte auch deswegen überleben, weil er alle Wendungen Stalins ohne Skrupel mitvollzog: So stellte er sich 1939 hinter den Hitler-Stalin-Pakt, den er als genialen Schachzug zur Verwirrung der Nationalsozialisten verteidigte. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 wurde er zum einen zur ideologischen Betreuung der deutschen Kriegsgefangenen und zum anderen zur propagandistischen Bearbeitung der deutschen Frontsoldaten eingesetzt, zeitweilig auch in Stalingrad. Wichtiger wurde, dass er im Februar 1943 die Verantwortung für sämtliche Organisations-, Kader- und Kriegsgefangenenfragen der Partei bekam, womit er die wichtigsten Fäden der Parteiarbeit in den Händen hielt, während Pieck nur nominell Parteivorsitzender blieb. Der Band schließt mit den Nachkriegsplanungen der KPD aus dem Jahr 1944 und der Bildung der drei Initiativgruppen für die sowjetische Zone, von denen die Gruppe Ulbricht für Berlin und Brandenburg zuständig wurde und als erste, am 30. April 1945, nach Deutschland flog.

Zwar dominiert aus nachvollziehbaren Gründen der Parteifunktionär, dem die "Partei [...] über allem" stand (248). Jedoch versucht Kowalczuk auch, dem privaten Ulbricht ein paar Konturen zu geben. Dabei geht es nicht nur um den sportlich engagierten und bildungsbeflissenen Menschen, der historisch interessiert war und einen Hang zu den deutschen Klassikern hatte, sondern auch um sein Verhältnis zu Frauen, das teilweise mit Briefwechseln beleuchtet wird. So war Ulbricht, bevor er sich 1935 mit Lotte Kühn einließ, mit zwei anderen Frauen verheiratet, mit denen er jeweils auch eine Tochter hatte. Lotte Kühn jedoch "ordnete [...] alles der Partei unter, wusste sich zurückzunehmen und verachtete unnötigen Konsum und materielle Anreize" (543). Wegen dieser geteilten Werte und der gemeinsamen Arbeit konnte diese Beziehung dann auch bis zum Lebensende Ulbrichts halten. Wesentlich jedoch war die Partei, die diese beiden überzeugten Kommunisten miteinander verband.

Was ist aber, abgesehen von den Schlaglichtern auf den privaten Ulbricht, neu an dem Bild, das Kowalczuk zeichnet? Er hat einzelne Mythen wie etwa den des Stalingrad-Kämpfers und auch das Zerrbild eines durch und durch unsympathischen, angepassten Handlangers Stalins dekonstruiert. Aber ein anderes Bild, das des unerbittlichen akribischen Funktionärs, der sein Organisationstalent und sein Leben ganz in den Dienst der kommunistischen Ideologie und ihrer Partei stellte, wird eindrucksvoll bestätigt.

Zweifellos hat Kowalczuk mit diesem ganz aus den Quellen gearbeiteten Buch eine Biographie verfasst, an der niemand vorbeikommt, der sich mit dem frühen Ulbricht beschäftigt. Allerdings beeinträchtigt die Ausführlichkeit und Detailliertheit der Darstellung, bei der etwa zu viele Rundschreiben paraphrasiert und die innerparteilichen Auseinandersetzungen zu minutiös geschildert werden, die Lektüre. Außerdem wird der Rezensent den Verdacht nicht los, dass der Autor bewusst einen Zweibänder verfasst hat, um die Bedeutung seines Protagonisten hervorzuheben, den er als "einen der einflussreichsten deutschen Politiker des 20. Jahrhunderts [betrachtet], in einer Reihe stehend mit Konrad Adenauer, Willy Brandt, Friedrich Ebert, Helmut Kohl oder Adolf Hitler" (14-15). Wenngleich das in den 1950er Jahren dominierende Bild des "Zonenvogts" sicher überzeichnet ist, lässt sich doch nicht leugnen, dass Ulbricht stets in einem sehr viel engeren Korsett agierte als die anderen hier genannten Politiker. Inwieweit er nach 1945 dennoch Eigenständigkeit bewies und seine Zeit prägte, ist die spannende Frage, zu der uns der zweite Band hoffentlich Aufschluss bieten wird.

Rezension über:

Ilko-Sascha Kowalczuk: Walter Ulbricht. Der deutsche Kommunist (1893-1945), München: C.H.Beck 2023, 1007 S., ISBN 978-3-406-80660-5, EUR 58,00

Rezension von:
Hermann Wentker
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Hermann Wentker: Rezension von: Ilko-Sascha Kowalczuk: Walter Ulbricht. Der deutsche Kommunist (1893-1945), München: C.H.Beck 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 1 [15.01.2024], URL: https://www.sehepunkte.de/2024/01/38360.html


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