Bei dem zu besprechenden Band handelt es sich um die Druckfassung von Anna Paulina Orłowskas Dissertation, die sich mit dem Handlungsbuch des Danziger Kaufmanns Johann Pyre (gestorben 1455) befasst. Sie umfasst zwei Bände: eine Edition dieser für die Hanseforschung ausgesprochen wichtigen Quelle und deren wirtschaftshistorische Interpretation, die Aspekte der Buchführung, der von Pyre sowohl reell als auch virtuell verwendeten Währungen, der Handelsgesellschaften, der gehandelten Produkte und der Netzwerke, in die Pyre eingebunden war, untersucht.
Man könnte die Besprechung kurz halten: Die Hanseforschung hat in den letzten Jahren substanzielle Kritik daran geübt, wie die häufig im 19. und frühen 20. Jahrhundert edierten Quellen, die gleichsam kanonisch sind - man denke etwa an die Überlieferung zu den ungleich bekannteren Veckinchusens [1] -, letztlich Forschungsbilder der Hanse prägen, die auf einem selektiven, nicht repräsentativen Quellenkorpus beruhen und damit zu Verzerrungen führen, die im schlimmsten Falle durch die "Standortgebundenheit" der Hanseforschung ebendieser Zeit geprägt sind (dazu vor allem Angela Huang und Ulla Kypta) . [2] Mit der mustergültigen Edition liegt nun ein etwa von Walter Stark intensiv genutztes, aber bisher nicht gedrucktes Handlungsbuch für die Forschung und Lehre vor, das gemeinsam mit anderen neueren Editionen [3] die Quellenbasis an ediert vorliegender kaufmännischer Buchführung deutlich erweitert - und manche der Befunde aus den Veckinchusen-Briefen und Handlungsbüchern vielleicht eher als exzeptionell denn als typisch erscheinen lässt. Zudem gelingt es Orłowska, den bisher in der Forschung als Pisz oder Piß identifizierten Kaufmann nun erstmals als Pyre zu bestimmen und damit auch - obwohl die sonstige Quellenlage zu Johann Pyre wenig bietet - in anderen Quellen des spätmittelalterlichen Danzigs zu finden (1820, 45-50).
Mit solch einem knappen Urteil würde man aber der Veröffentlichung nicht einmal ansatzweise gerecht. Die Verfasserin legt nämlich zudem eine qualitative und quantitative Analyse von Pyres Handlungsbuch vor, welche die Forschungen zum mittelalterlichen Fernhandel ungemein bereichert. Das gilt auch für die umfangreichen Anhänge zu Produktbezeichnungen und Handelsmarken, aber vor allem für die verschiedenen oben genannten Aspekte, anhand derer Orłowska ihre Quelle analysiert. Die jeweiligen Kapitel kennzeichnet ein nüchterner, pointierter, man könnte fast sagen kompakter Stil, der Forschungsdebatten knapp und konzise zusammenfasst und dabei fundiert erklärt, welche Ergebnisse Pyres Handlungsbuch dazu beitragen kann, diese Debatten zu führen.
Aus der Fülle der Erkenntnisse - etwa zum Gesellschaftshandel, zu dem sich Tobias Boestad in einer Rezension jüngst geäußert hat [4] - möchte der Rezensent drei tentative Aspekte hervorheben, die eher seinen Interessen entsprechen: Erstens liefert Orłowskas Darstellung viele Belege für wirtschaftliche Wechsellagen, etwa anhand von Preisreihen und Warenmengen, die Pyre handelte (189-212), die, gerade auch mit Blick auf die sogenannte Krise des Spätmittelalters, zu der Überlegung einladen, ob sich diese aus Konjunkturen, Krisen und Kontraktionsprozessen ergaben oder aus - wie Orłowska einleuchtend argumentiert - der Biografie eines Kaufmannslebens, das sich in Richtung eher sicherer und weniger riskanter Geschäfte bewegte. Zweitens lädt das Buch dazu ein, die Rolle der Engländer und Holländer im Ost-West-Handel, aber auch in der Stadtgemeinde Danzigs noch einmal neu zu beleuchten (273-289). Die Verfasserin zeigt beides, Konflikte und Kooperation zwischen den Hansen und eben diesen Gruppen, verweist aber auf den Strukturwandel, in dem zumindest die Holländer als Schiffer im Ostseeraum zunehmend dominanter wurden. Und drittens - und vielleicht am spannendsten: Orłowska beginnt ihre Darstellung mit einem Verweis auf die zunehmenden Spannungen zwischen dem Landesherrn Pyres und Danzigs, dem Hochmeister des Deutschen Ordens, und seinen Untertanen, kulminierend im Dreizehnjährigen Krieg. Sie zeigt aber auch sehr deutlich, welch intensive Kontakte zwischen Danziger Bürgern und den Amts- und Herrschaftsträgern des Ordens in den 1430er und 1440er Jahren bestanden (331-341). Das mag nahelegen, danach zu fragen, wie sich die entsprechenden Konfliktkonstellationen eigentlich mikropolitisch gestalteten. All dies verdeutlicht aber: Mit Pyres Handlungsbuch liegt eine Quelle vor, die man künftig für die Handelsgeschichte des Ostseeraums des 15. Jahrhunderts schwer wird übergehen können. Orłowskas Darstellung interpretiert diese auf eine Art und Weise, die viele, hoffentlich gewinnbringende Fragen an die Hanseforschung der nächsten Jahre aufwirft. Kurz: zwei gute Bücher.
Anmerkungen:
[1] Mit Verweis auf den Literaturstand: Albrecht Cordes: Die Veckinchusen-Quellen und ihre weitere Erforschung. Ein faszinierendes und sperriges Stück Kaufmannsgeschichte, in: Konzeptionelle Überlegungen zur Edition von Rechnungen und Amtsbüchern des späten Mittelalters, hg. von Jürgen Sarnowsky, Göttingen 2016, 73-90.
[2] Angela Huang / Ulla Kypta: Ein neues Haus auf altem Fundament. Neue Trends in der Hanseforschung und die Nutzbarkeit der Rezesseditionen, in: Hansische Geschichtsblätter 129 (2011), 213-229.
[3] Siehe zum Beispiel Sabrina Stockhusen: Hinrik Dunkelgud und sein Rechnungsbuch (1479 bis 1517). Lebensformen eines Lübecker Krämers an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, Stuttgart 2019.
[4] Tobias Boestad: Rezension von Anna Paulina Orłowska: Johann Pyre. Ein Kaufmann und sein Handelsbuch im spätmittelalterlichen Danzig, 2 Bde., Köln, Weimar, Wien, in: Francia-Recensio (2023), 1, https://doi.org/10.11588/frrec.2023.1.94540.
Anna Paulina Orlowska: Johan Pyre. Ein Kaufmann und sein Handelsbuch im spätmittelalterlichen Danzig. Darstellung und Edition (= Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte. Neue Folge; Bd. 77), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2022, 2 Bde., 448 S. + 259 S., ISBN 978-3-412-51723-6, EUR 110,00
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