sehepunkte 24 (2024), Nr. 10

Alexander Etkind: Russia Against Modernity

Russlands Krieg gegen die Ukraine befindet sich im dritten Jahr, so die grausame Zeitrechnung der Gegenwart. Die These, Wladimir Putins Angriff sei als Reaktion auf die Osterweiterungen der NATO zu verstehen, wurde 2021 nochmals vehement von Gerhard Schröder und Gregor Schöllgen vertreten, also in der unmittelbaren Vorkriegszeit, die schon keine Friedenszeit mehr war, weil die russische Aggression, die die beiden Autoren in ihrer Schrift rechtfertigten [1], bereits 2014 mit der Annexion der Krim und dem von Russland inszenierten Bürgerkrieg in der Ost-Ukraine begonnen hatte. 2021 stand ein NATO-Beitritt der Ukraine auch nicht zu befürchten. Vielmehr widerfuhr dem Land im Februar 2022, was Pufferzonen widerfährt, in denen die Gesetze der nuklearen Abschreckung nicht gelten und auf die die großen Mächte und "große Männer" seit jeher glaubten, keine Rücksicht nehmen zu müssen. Hinzu kommt die Gewaltspur Putins, wie sie der britische Journalist John Sweeney nachgezeichnet hat. [2] Diese legt nahe, dass Gewalt für den russischen Präsidenten ein fester Bestandteil seines politischen Handelns ist. Wenn aber Figuren wie Putin ein Symptom ihrer Zeit und der gesellschaftlichen Zustände sind, die sie hervorgebracht haben, so ist zu fragen, was für eine Gesellschaft Russland ist und inwieweit die dort zu beobachtenden gesellschaftlichen Tendenzen zu Putin und dessen Krieg geführt haben. Diesen Fragen widmet sich das Buch des Historikers Alexander Etkind, der seine Karriere mit einem Werk über die Psychoanalyse in Russland begann. [3]

Gemäß Etkind war die UdSSR ein Land, das sich in besonderem Maße der Moderne verschrieben hatte. Die Sowjetmoderne war die mit fossilen Energien befeuerte Moderne des "Anthropozäns", die auch nach 1992 im russischen Staat mit seinem Geschäftsmodell des Exports von fossilen Energien und Rohstoffen fortlebte und unter Putin immer mehr die Züge einer rückwärtsgewandten "Paleo-Moderne" (3) angenommen habe. Demgegenüber sieht Etkind die Gegenwart durch den Aufstieg einer grünen "Gaia-Moderne" (4) bestimmt, die sich als Antwort auf die tiefe ökologische Krise des Weltsystems herausgebildet habe, angesichts des Klimawandels die Abkehr von fossilen Energien betreibe und einem nachhaltigen und humanen Fortschrittsbegriff anhänge. Dem Herrschaftsmodell Putins drohe dadurch die ökonomische Grundlage entzogen zu werden; das Bemühen der EU um einen Ausstieg aus den fossilen Energien sei in Moskau als eine Bedrohung des eigenen Systems begriffen worden. Dagegen sei Putin zur Gegenoffensive angetreten, habe Russland bewusst einem Prozess der Demodernisierung unterzogen, weltweit rechtsextreme Bewegungen sowie Leugner des Klimawandels unterstützt und schließlich mit dem Großangriff auf die Ukraine den Rubikon zum endgültigen Bruch mit der neuen Moderne überschritten: "Putin's aim was to restore the Soviet-style paleomodernity - the reign of oil, steel and smoke, the majesty of military power, the coerced unity of the people". (11)

Etkinds quasi makrosoziologische Überlegungen taugen sicher nicht, die unmittelbar zum Krieg führende Entscheidungsfindung im Kreml zu rekonstruieren, aber sie machen deutlich, warum es in Putins Russland zu einem gesellschaftspolitischen Regressionsprozess kommen konnte, der immer mehr Züge von Wladimir Sorokins dystopischem Roman "Der Tag des Opritschniks" [4] aufweist. Im Zentrum von Etkinds Analyse steht der "Petro-Staat" (24), dessen wirtschaftliches Fundament in der Förderung von Öl und Erdgas besteht. In den entsprechenden Industrien, so Etkind, sei lediglich ein Prozent der russischen Bevölkerung beschäftigt, während der Energieexport mehr als die Hälfte des Staatshaushalts finanziere. Hauptnutznießer des Petro-Staats seien aber nicht die Industrien, die sich der Förderung und Vermarktung der fossilen Energieträger widmen, sondern die Sicherheitseliten, die mit ihren Gewaltapparaten den reibungslosen Ablauf des Geschäfts garantierten. So hatte bereits der Ölpreisboom der 1970er Jahre den beispiellosen Aufwuchs von Militär und Staatssicherheit finanziert, der zum Markenzeichen der Breschnew-Ära wurde.

Wo aber die Extraktion von Rohstoffen und nicht die Arbeit der Bevölkerung die primäre Quelle des nationalen Wohlstands ist, so Etkind, sind die Folgen ein korrupter und parasitärer Staatsapparat sowie extreme Ungleichheit. In Putins Russland verfügt eine dünne Schicht ehemaliger KGB-Offiziere über die Quellen des Reichtums, den sie zu einem nicht unwesentlichen Teil ins sichere, weil rechtstaatliche Ausland gebracht oder für Insignien oligarchischer Macht verjubelt haben. Hinzu kommt das Bestreben, die eigene Machtposition an den Nachwuchs weiterzugeben. Putins Elite nimmt so längst die Züge des Adels im zaristischen Russland an. Zurecht betont Etkind, dass Petro-Staaten wie Russland, Saudi-Arabien, der Iran und Venezuela zu Gegenbeispielen für jene Modernisierungstheorien geworden sind, die aufgrund von wachsendem Wohlstand Freiheit und Demokratisierung erwartet hatten. Stattdessen brachte das nicht durch Arbeit verdiente Geld Russland Unfreiheit und autoritäre Strukturen.

Eindrucksvoll skizziert Etkind den Niedergang des öffentlichen Raums in Putins Russland. Die in den 1990er Jahren privatisierten TV-Kanäle und Zeitungen waren das erste Ziel seiner gesellschaftspolitischen Machtergreifung. Die Programme seien nun von patriarchalischer Aversion gegen Vielfalt und Wandel geprägt, kultivierten Narzissmus, Verschwörungstheorien und Homophobie. Etkind legt dar, dass die russischen Protestbewegungen der Jahre 2011/12 ebenso wie die in der Ukraine von Studenten, Intellektuellen und IT-Arbeitern geprägt gewesen seien. Der Sieg des russischen Staates über ihren Protest habe einen Rückzug dieser Schichten aus dem öffentlichen Raum zu Folge gehabt. Putins Bündnis mit der orthodoxen Kirche und der Aufstieg von mystisch-nationalistischen Denkern wie Alexander Dugin hätten immer mehr Modernisierungsfäden abreißen lassen und die ideologischen Grundlagen für die imperialistische Reconquista der zu russischem Stammland erklärten Ukraine gelegt. Mehr noch, Russland sei im Rahmen der neuen Staatsreligion, die in den Talkshows von Figuren wie Wladimir Solowjow gepredigt wird, die mystisch-spirituelle Rolle eines "Katechons" (77) zugewiesen worden, dessen Aufgabe der Kampf gegen den vielfach beschworenen westlichen Satanismus sei.

In einem Kapitel über die Genderbeziehungen im russischen Petro-Staat zeigt Etkind, dass der Beschwörung traditioneller Werte, mit der der russische Staat die Demodernisierung des Landes vorantreibt, ein Zerfall der klassischen Kernfamilie gegenübersteht. Die auch unter Putin voranschreitende Deindustrialisierung Russlands habe die Krise des russischen Mannes vertieft und zu einer vaterlosen Familienstruktur, die aus Mutter, Großmutter und Kindern besteht, geführt. Zugleich hätte die ökonomische Dominanz der von Männern beherrschten Ölindustrie den Aufstieg eines Petro-Machos begünstigt, der, ähnlich wie in den islamischen Öl-Staaten, eine privilegierte männliche Herrschaftskaste bilde, welcher eine nachgeordnete Klasse von für ihren Lebensunterhalt arbeitender Frauen und Männer gegenüberstehe. An der Entkriminalisierung der häuslichen Gewalt, der hohen Rate von Femiziden und dem dramatischen Einkommensgefälle zulasten der gut ausgebildeten Frauen macht Etkind den Unterschichten-Charakter der russischen weiblichen Bevölkerung aus. Die massive Unterdrückung der Frauen habe indes dazu geführt, dass in den Widerstandsbewegungen der postsowjetischen Staaten Frauen besonders profiliert seien: "Confronting a petromacho state, rebellious manifestations of femininity became all-embracing political symbols." (87)

Im Verfall der Geburtenrate und in der niedrigen Lebenserwartung der Männer, die nach einer Statistik aus dem Jahr 2005 14 Jahre vor den Frauen sterben, sieht Etkind die langfristigen degenerativen Folgen einer sowjetischen Herrschaft, die die Landbevölkerung mit extremer Gewalt proletarisiert und ihrer kulturellen Traditionen beraubt hatte. Hinzu kam das Drogenproblem: Während der sowjetische Staat von den Steuereinnahmen für Alkohol abhing, war das Trinken für die Bevölkerung eine der wenigen leicht zugänglichen Vergnügungsquellen. Zur emotionalen Verwüstung der Bevölkerung trugen die hohen Abtreibungsraten und die brutale Schikanierung der jungen Männer im Militär durch dienstältere Soldaten, die sogenannte Herrschaft der Großväter (Dedowschina), bei. Etkind verweist hier besonders auf die von den Tätern als "pädagogisch" verstandenen Vergewaltigungen von Rekruten, als deren politische Entsprechung er Putins "Großvaterherrschaft" sieht: "Mixing up hugely different feelings and actions in a traumatic experience, the 'grandfather soldiers' created an emotional chaos of dedovschina that foreshadowed the political chaos of Putinism." (100)

Dem im Präteritum verfassten Buch Etkinds haftet ein prophetischer Duktus an, der besonders in den Schlusskapiteln über Putins Krieg und über die Entföderalisierung Russlands ins Auge sticht. Hier schildert Etkind die Kriegsniederlage und den Zerfall des russischen Staats in eine Reihe von Nachfolgerepubliken so, als seien diese schon eingetreten. Aufgrund der enormen Korruption und der verfestigten Gewohnheit in Putins Armee, die Lage nach oben hin schön zu lügen, hält er ein Scheitern des russischen Angriffskrieges für unvermeidlich. Die im laufenden Kriegsjahr doch auch zutage getretene Lernfähigkeit des russischen Militärs nimmt Etkind dabei nicht zur Kenntnis. Zudem kann jeder Krieg, ungeachtet des Kräfteverhältnisses, durch Dummheit und Halbherzigkeit verloren gehen. Ob der Dialektiker Etkind die Zukunft richtig prognostiziert, muss sich also erst noch zeigen. Dennoch liefert er die scharfsinnige Gesellschaftsanalyse eines kriminellen Petro-Staates, der sich in das genozidale Projekt der politischen und kulturellen Auslöschung eines Nachbarvolkes verstrickt hat.


Anmerkungen:

[1] Gregor Schöllgen / Gerhard Schröder: Letzte Chance. Warum wir jetzt eine neue Weltordnung brauchen, München 2021, 69-70.

[2] John Sweeney: The Killer in the Kremlin. The Explosive Account of Putin's Reign of Terror, London 2023.

[3] Alexander Etkind: Eros des Unmöglichen. Die Geschichte der Psychoanalyse in Russland, Leipzig 1996.

[4] Vladimir Sorokin: Der Tag des Opritschniks, Köln 2022.

Rezension über:

Alexander Etkind: Russia Against Modernity, Cambridge: polity 2023, VI + 166 S., ISBN 978-1-5095-5658-8, GBP 14,99

Rezension von:
Michael Ploetz
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Michael Ploetz: Rezension von: Alexander Etkind: Russia Against Modernity, Cambridge: polity 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 10 [15.10.2024], URL: https://www.sehepunkte.de/2024/10/38979.html


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