Klaus Malettke, der 2018 schon zu Kardinal Richelieu eine umfassende Biographie veröffentlicht hatte [1], hat nun ein ähnlich voluminöses Werk dem zweiten großen "Kardinalpremier" Frankreichs im 17. Jahrhundert gewidmet: Jules Mazarin. Knapp 1000 Textseiten bieten ihm reichlich Raum, um den Lebenslauf seines Protagonisten detailliert zu schildern, freilich mit spezifischen Schwerpunktsetzungen, die durch die Quellen- und Literaturlage, aber auch durch die Interessen und Kompetenzen des Verfassers begründet sind. Die Einleitung ist vergleichsweise knapp ausgefallen. Malettke beschränkt sich hier im Wesentlichen auf einen Überblick über die Quellen- und Forschungslage und legt, unter Verzicht auf weitergehende methodische Überlegungen, dar, dass er seine Darstellung, "[a]uf der Basis der Ergebnisse der einschlägigen modernen Forschung französischer, deutscher und anderer internationaler Historiker [...] erarbeitet" habe (8). Auf eine umfangreiche Einführung in die historischen Kontexte am Beginn der Studie hat Malettke verzichtet. Stattdessen schiebt er an mehreren Stellen Exkurse zu politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen ein.
Auf eine vergleichsweise knappe Darstellung der familiären Hintergründe seines Protagonisten, der als Sohn Pietro Mazzarinis, eines im Dienst der römischen Colonna stehenden Mannes mit sizilianisch-genuesischen Wurzeln, und der Römerin Ortensia Buffalini geboren wurde, folgen drei Kapitel, die die ersten Karrierestufen Giulio Mazzarinis in päpstlichen Diensten schildern, namentlich seine Aktivitäten zur Beilegung des Mantuanischen Erbfolgekriegs in den Verträgen von Cherasco (1631). In diesem Kontext traf er erstmals auch mit seinem späteren Mentor Richelieu zusammen. Als außerordentlicher Nuntius in Frankreich erhielt er 1634-1636 Gelegenheit, diese Beziehung zu vertiefen. Seine anschließende Tätigkeit als Vizelegat in Avignon, also als Gouverneur dieser päpstlichen Exklave, empfand er als Degradierung oder, wie Malettke es formuliert, als "Purgatorium" (Kapitel III.10). Während seiner Anwesenheit in Rom ab 1636 trat Mazarin offen als Vertreter französischer Interessen auf. Als seine von Ludwig XIII. und Richelieu gewünschte Ernennung zum ordentlichen Nuntius in Frankreich am Widerstand Papst Urbans VIII. scheiterte, vollzog er den entscheidenden Schwenk in seiner Karriere: Er trat in französische Dienste ein; aus Giulio Mazzarino wurde Jules Mazarin.
Der französischen Lebensphase Mazarins (1640-1661) räumt der Frankreichspezialist Malettke den weitaus größten Raum in dem Band ein. Dies ist auch dadurch begründet, dass Mazarin im Dienst der französischen Krone binnen weniger Jahre einen beispiellosen Aufstieg erlebte. Als Klient Richelieus in den französischen Dienst eingetreten, wurde er von diesem ausersehen, Frankreich beim bevorstehenden Friedenskongress zu vertreten. 1641 wurde er als Kandidat der französischen Krone zum Kardinal erhoben. Doch statt von Ludwig XIII. als Diplomat zu den sich verzögernden Friedensverhandlungen entsandt zu werden, wurde er von diesem nach dem Tod Richelieus 1642 in den Staatsrat berufen. An dieser Stelle schiebt Malettke einen Exkurs (Kapitel VI.2) zu den maßgeblichen Persönlichkeiten der königlichen Familie um 1640 - Ludwig XIII., Anna von Österreich und Gaston d'Orléans - ein, wobei er bis in die Zeiten der Regentschaft Marias de' Medici zurückgreift. Denn die vielfach belasteten Konstellationen zwischen diesen Personen hatten massive Auswirkungen auf Mazarin, der in den letzten Lebensmonaten Ludwigs XIII. nicht nur zu dessen führendem Minister aufstieg (Kapitel VI.3), sondern nach dem Tod des Königs 1642 auch zum "Chef du Conseil" der Regentin Anna von Österreich. Nach einem Überblick über den Beginn von Mazarins "Ministeriat" (Kapitel VII) ist das umfangreichste, über 250 Seiten umfassende Kapitel (VIII) "Mazarins Politik im Kontext der entscheidenden Friedensverhandlungen in Westfalen (1645-1648)" gewidmet - schon die Länge dieses Kapitels macht die besondere Schwerpunktsetzung auf Mazarins Außenpolitik deutlich. Doch auch die Fronde, in deren Verlauf sich Mazarin persönlichen Angriffen in den sogenannten Mazarinaden ausgesetzt sah und zweimal ins Exil gehen musste, wird detailliert geschildert. Die Innenpolitik nach dem Ende der Fronde behandelt Malettke auf etwa 25 Seiten, während der Weg zum Frieden mit Spanien gut 100 Seiten beansprucht. Das vorletzte Kapitel XII trägt den Titel "'Familien- und Heiratspolitik', Klientel, Vermögen Mazarins, Herzog und Pair von Frankreich". Es ist, im weitesten Sinne, der Entwicklung der persönlichen Verhältnisse Mazarins während seiner französischen Zeit gewidmet. Manche Aspekte, die vorher nur knapp erwähnt wurden, wie etwa die Beziehung zwischen Mazarins Nichte Maria Mancini und Ludwig XIV. (798), erhalten nun etwas mehr Raum (827f.). Auch die mehr als zweifelhaften Mittel, mit denen Mazarin sein ungeheures Vermögen anhäufte, kommen hier zur Sprache. Nach einem knappen Überblick über die letzten Lebensjahre Mazarins nach dem Pyrenäenfrieden (Kapitel XIII) endet die Darstellung mit einem resümierenden "Epilog" (Kapitel XIV). Hier würdigt Malettke seinen Protagonisten, indem er ihn mit seinem Vorgänger Richelieu vergleicht und ihn diesem an die Seite stellt: "Beide Staatsmänner haben nicht nur das Frankreich ihrer Zeit maßgeblich geprägt und die Grundlagen geschaffen, auf denen Ludwig XIV. sein Reich zur präponderierenden Großmacht im Europa der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erheben konnte, sondern sie haben auch das europäische Staatensystem ihrer Epoche wesentlich mitgestaltet" (933).
Klaus Malettke hat eine umfassende wissenschaftliche Biographie Mazarins vorgelegt, die, aus einer profunden Kenntnis der französischen und europäischen Geschichte des 17. Jahrhunderts schöpfend, vor allem das spezifische außenpolitische Profil des - sonst oft als bloßer "Nachlassverwalter" Richelieus erscheinenden - Kardinalpremiers deutlich konturiert. Gegenüber diesem ganz erheblichen Verdienst dürfen freilich einige Desiderate nicht unerwähnt bleiben. So wäre im Einzelfall zu fragen, ob die erwähnten kontextualisierenden Exkurse rechtzeitig kommen, um weniger mit der Materie vertraute Leserinnen und Leser mit den erforderlichen Informationen zu versorgen. Auch bewegt sich der Verfasser hier nicht immer in gleicher Weise auf der Höhe der Forschung wie in den Kernabschnitten seiner Studie. Problematisch ist, dass Malettke am Beginn von Kapitel II sein Verständnis von "internationalen Beziehungen" darlegt und postuliert, in der Forschung herrsche "weitgehend Einigkeit, daß die Entstehung des europäischen Staatensystems der Neuzeit verknüpft ist mit der Ausbildung des frühmodernen souveränen Staates in seiner fürstlich-monarchischen oder ständisch-republikanischen Ausformung" (28). Auf die aktuellen Forschungspositionen, die die Verwendung von an der Moderne ausgerichteten Begriffen wie "internationale Beziehungen", "Staat" und "Staatensystem" für die Frühe Neuzeit kritisch hinterfragen, geht Malettke nicht ein.
Bedauerlich ist auch, dass Malettkes kurzes Kapitel zur Patronagepolitik Mazarins fast ganz am Ende platziert ist (Kapitel XII.2). Dabei geht der Verfasser in seiner Darstellung immer wieder auf Klientelverhältnisse ein, die für den Aufstieg Mazarins eine entscheidende Rolle spielten. Wenn Malettke relativ am Anfang einen Abschnitt zu Patronage und Klientel mit der einschlägigen aktuellen Forschungsliteratur eingefügt hätte, hätte er seinen Leserinnen und Lesern einen wichtigen Schlüssel an die Hand gegeben, um den Werdegang Mazarins noch besser nachvollziehen zu können.
Eine weitere Leerstelle fällt in der Bibliographie auf: Man vermisst die umfangreiche Literatur zur Herrschaft bzw. Herrschaftsbeteiligung sowie insbesondere zu vormundschaftlichen Regentschaften von Frauen in Frankreich. [2] Selbstverständlich spielt Anna von Österreich eine sehr prominente Rolle in dem Band, und Malettke würdigt sie als eine energische Königin. Doch eine systematische Betrachtung ihrer Handlungsspielräume als Regentin auf der Basis der einschlägigen Forschungsliteratur erfolgt nicht. Eine solche Erörterung wäre aber auch für die Rolle Mazarins während der Regentschaft und insbesondere während der Fronde durchaus erhellend gewesen.
Die angesprochenen Leerstellen betreffen sicher nicht den Kern der Mazarin-Biographie Klaus Malettkes. Gleichwohl ist zu bedauern, dass hier weitergehendes Erkenntnispotential verschenkt worden ist. Mein Fazit lautet daher: Wer sich künftig mit der Person des Kardinals Mazarin, seiner Regierung und insbesondere auch seiner Außenpolitik beschäftigt, wird an dieser großen Biographie nicht vorbeikommen. Wer dagegen an den weiteren historischen Kontexten und an der Einbettung von Mazarins Lebensgeschichte in aktuelle Forschungsdiskussionen zur Geschichte der Frühen Neuzeit interessiert ist, tut gut daran, flankierend weitere Literatur heranzuziehen.
Anmerkungen:
[1] Klaus Malettke: Richelieu. Ein Leben im Dienste des Königs und Frankreichs, Paderborn u.a. 2018.
[2] Z.B. Fanny Cosandey: La reine de France. Symbole et pouvoir, XVe-XVIII siècle (= Bibliothèque des histoires), Paris 2000; Katherine Crawford: Perilous Performances. Gender and Regency in Early Modern France (= Harvard Historical Studies; 145), Cambridge, Mass. 2004; Oliver Mallick: "Spiritus intus agit". Die Patronagepolitik der Anna von Österreich 1643-1666. Inszenierungsstrategie, Hofhaltungspraxis und Freundschaftsrhetorik (= Pariser Historische Studien; 106), Berlin 2016.
Klaus Malettke: Mazarin (1602-1661). Diplomat des Papstes, Kardinal, "Premierminister" des französischen Königs, Mitgestalter Europas um die Mitte des 17. Jahrhunderts, Münster: Aschendorff 2024, IX + 989 S., ISBN 978-3-402-25062-4, EUR 89,00
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