Demokratien und Liberalismus - und mit ihnen die Menschenrechte - geraten zunehmend in die Defensive. Laut Transformationsindex der Bertelsmann-Stiftung stehen mittlerweile weltweit 74 autokratische Regimes nur mehr 63 Demokratien gegenüber. [1] Auch innerhalb der demokratischen Staaten gerät das System unter Druck. Parteien wie der Rassemblement National in Frankreich, die Prawo i Sprawiedliwość (PiS) in Polen oder die Alternative für Deutschland (AfD) sind ebenso Anzeichen für diese Tendenz wie die erneute Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA. Nicht nur Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten, sondern auch neoliberale Organisationen wie das Weltwirtschaftsforum warnen vor einer "Ära nach den Menschenrechten". [2]
Bezugspunkt dieser Warnungen ist die im Dezember 1948 von den Vereinten Nationen verkündete "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte", die nach der Erfahrung des Holocausts und des Zweiten Weltkriegs erarbeitet wurde. Weltweit engagieren sich heute Organisationen und Initiativen in der Menschenrechtsarbeit, so auch die Institutionen der Erinnerungsarbeit, die Katrin Antweiler in ihrer 2023 erschienenen Dissertation untersucht hat.
Die Autorin fragt danach, wie Erinnerung als "Werkzeug des Regierens" nutzbar gemacht wird (53). Die Untersuchung entwickelt sich aus drei Fallstudien. Antweiler untersucht das Memorium Nürnberger Prozesse in Nürnberg (Kapitel 5), das Canadian Museum for Human Rights in Winnipeg (Kapitel 6) und das South African Holocaust & Genocide Center in Johannesburg (Kapitel 7). Unter der Überschrift "Memory as a Means of Gouvernment" führt sie ihre Fallbeispiele im zentralen achten Kapitel zusammen und untersucht diese mit dem Anspruch, eine vollkommen neue Perspektive auf den Nexus von Holocaust und Menschenrechten zu werfen. Hierzu nutzt sie diskurs- und gouvernementalitätstheoretische Ansätze, dekoloniale Kritik, Erinnerungstheorie sowie eigene Analysen des Zusammenhangs von Menschenrechtsdiskursen und dem Holocaustgedenken, die sie in Kapitel 2 und 3 darlegt. In Kapitel 4 stellt Antweiler den breiteren Kontext ihres Untersuchungsgegenstands dar, den Transfer der Erinnerung an den Holocaust auf die Menschenrechtsidee und -politik. Als zentrale Akteure macht sie die United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization und die International Holocaust Remembrance Alliance aus. Die untersuchten Museen analysiert die Autorin als Teil dieses "holocaust-human rights nexus" (58-70).
Vor dem Fazit konzipiert Antweiler im Rahmen eines Gedankenexperiments in Kapitel 9 ein "Museum of Doubt" als Alternative zur gegenwärtigen Praxis der Holocaust-Erinnerung in Menschenrechtsmuseen.
Ausgangspunkt Antweilers sind Begriff und Konzept der Gouvernementalität nach Foucault, die sie in Anlehnung an Wendy Brown, Barbara Cruikshank und anderen auf Herrschaftsstrategien in der neoliberalen Gegenwart anwendet. Die Autorin führt aus, dass die von ihr untersuchten Museen die Besuchenden zu "global citizen-subjects" erziehen oder gar "programmieren" (160). Sie sollten sich im Sinne einer (neo-)liberal verstandenen, demokratischen und marktwirtschaftlichen Ordnung als historisch bewusste Verteidigerinnen und Verteidiger der Menschenrechte betätigen. Durch den Einsatz emotional aufgeladener Ausstellungen und pädagogischer Programme werde den Besuchenden eine politische Haltung vorgeschrieben, Geschichte und Erinnerung würden für die Zukunft nutzbar gemacht. Die Verbrechen und Gräuel der Vergangenheit würden durch ihre öffentliche Präsentation in die Sphäre des Anderen verwiesen und gleichzeitig das Gefühl vermittelt, als Besucherin oder Besucher stünde man auf der Seite des Guten. Die Verbrechen der Vergangenheit würden so als abgegolten wahrgenommen. Antweiler nennt dieses Phänomen "exhibitionary atonement" (etwa: "zur Schau gestellte Sühne", 131, 156, 163). Auf diese Weise perpetuierten sich die Vorstellungen einer guten und gerechten Welt - ebenso wie eurozentristische, rassistische und (post-)koloniale Anschauungen. Durch die Folie des Holocaust werde, so die Autorin, politische Gewalt und Ungleichheit doppelt ausgelagert: zum einen in die Vergangenheit und zum anderen in autoritäre, nicht liberal-demokratische Regime. Die (neo-)liberale Demokratie erscheine den Besucherinnen und Besuchern so als alternativlose Regierungsform - neue politische Ideen und dissidente Haltungen würden auf diese Weise unmöglich gemacht.
Besonders stark ist der analytische Unterbau. Katrin Antweiler entwickelt die Gouvernementalitätstheorie für ihren Untersuchungsgegenstand überzeugend fort und führt mit "holocaust-human rights nexus" und "exibitional atonement" (131, 156, 163) prägnante Analysebegriffe ein. Das von der Autorin erklärte Ziel des Buches "to illuminate how memory is utilised as a tool of government" (53) und das genutzte theoretische Framework determinieren die möglichen Schlüsse allerdings.
Die drei untersuchten Museen werden ausführlich kontextualisiert und räumlich-historisch eingeordnet. Antweiler beschreibt ihre Forschungsaufenthalte in den Museen und analysiert die Dauerausstellungen sowie Veröffentlichungen der Museen und ihr pädagogisches Begleitmaterial. Leider greift sie an keiner Stelle auf Eindrücke oder Kommentare anderer Besucherinnen und Besucher der Museen zu, betreibt keine Besucherforschung. Sind die Besucherinnen und Besucher tatsächlich einem "exhibitionary atonement" unterworfen oder entwickeln sie einen Eigen-Sinn, eignen sie sich die Museen an?
Katrin Antweiler legt eine Studie vor, die den Finger gezielt in Wunden der (globalen) Erinnerungsarbeit legt. Vor allem der theoretische Rahmen des Buchs ist anregend, wenngleich er in Zusammenhang mit dem Forschungsinteresse das Ergebnis ein Stück weit festlegt. Das Buch schärft den Blick für die Wirkungsweisen der globalen "holocaust education" (87, 151, 159, 185). Diese Wirkungen mit empirischer Besucherforschung abzugleichen, bleibt ein Desiderat. Kuratorinnen und Kuratoren sowie Praktikerinnen und Praktiker in Holocaust- und Menschenrechtsmuseen erhalten durch Antweilers Studie sicher gewinnbringende Denkanstöße, theoretisch arbeitende Public Historians eine haltungsstarke Anregung zur weiteren Arbeit.
Anmerkungen:
[1] Bertelsmann-Stiftung (online): Wie die Erosion der Demokratie gestoppt werden kann (19.03.2024), URL: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2024/maerz/wie-die-erosion-der-demokratie-gestoppt-werden-kann?tx_rsmbstpress_pi1%5Bpage%5D=0&cHash=8b9976d2527753faebbf58923434765b
[2] World Economic Forum (online): A 'post-human rights' era is emerging. Here's what it means for migrants - and how to stop it (08.04.2024), URL: https://www.weforum.org/stories/2024/04/post-human-rights-multilateral-system-migration/
Katrin Antweiler: Memorialising the Holocaust in Human Rights Museums (= Media and Cultural Memory/ Medien und kulturelle Erinnerung; Vol. 37), Berlin: De Gruyter 2023, X + 242 S., ISBN 978-3-11-078797-9, 99,95
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