Im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus ist die Universität Freiburg einer der wesentlichen Standorte kritischer Beschäftigung mit dem Lehnswesen bzw. mit der Frage nach den Möglichkeiten, die komplexen Strukturen mittelalterlicher Herrschaft adäquater zu erfassen und zu beschreiben. Dort entstand auch Sebastian Kallas von Jürgen Dendorfer und Steffen Patzold (Tübingen) betreute und 2019 angenommene Dissertation, für die Steffen Krieb (Mainz) das Drittgutachten verfasste. 2024 ist diese Arbeit, in der die Leiheformen und herrschaftlichen Bindungen im Hochstift Bamberg im Zeitraum von 1102 bis 1260 in den Fokus gerückt sind, als für den Druck überarbeitete Monografie erschienen. In die von Dendorfer und Patzold herausgegebene Reihe "Besitz und Beziehungen" fügt sie sich nicht allein aufgrund ihres programmatischen Titels gut ein, wird doch die Existenz eines mittelalterlichen Lehnswesens wie auch die Sinnhaftigkeit des Lehnswesens als Erklärungsmodell grundsätzlich in Zweifel gezogen.
Der Aufbau überzeugt durch Stringenz: In der Einleitung werden das Lehnswesen und insbesondere der derzeitige allgemeine Forschungstand zu diesem Thema vorgestellt. Kalla möchte aber keine Einordnung seiner Ergebnisse in eine teleologische Erzählung vom Lehnswesen vornehmen, sondern alternative Erklärungsmöglichkeiten aufzeigen. Zu Recht weist er auf die Problematik verschiedener Quellenbegriffe hin, die mitunter als sicherer Beleg für die Existenz des Lehnswesens herhalten mussten. Dabei schwingt stets die wesentliche Frage mit, inwiefern aus regionalen Studien überhaupt allgemeingültige Aussagen abgeleitet werden können. Anschließend wird ein Überblick der Forschung zum Hochstift Bamberg gegeben, wobei die Rolle des Lehnswesens bei der Deutung der Bistumsgeschichte dargelegt wird. Danach werden die genutzten Quellen - also die Bischofsurkunden des genannten Zeitraums - nicht zuletzt hinsichtlich der bei ihrer Interpretation begegnenden Herausforderungen sowie bisheriger Interpretationsansätze vorgestellt.
Im zweiten Hauptkapitel legt Kalla den Fokus auf verschiedene Leiheformen, also auf den Leihegedanken bezüglich der Eigengüter, Nutznießung und Nießbrauch, Pacht sowie auf die "normale Leihe", deren Darstellung den meisten Raum einnimmt. Durch die Nutzung des Terminus der "normalen Leihe" vermeidet er den aufgrund der traditionell als zwangsläufig angenommenen Verbindung mit der Vasallität missverständlich aufgeladen Begriff "Lehen". Auf Grundlage für Skandinavien und Norddeutschland gewonnener Erkenntnisse ist Kallas Einordnung der Bezeichnung als feudum als Hinweis auf die "normale Leihe" augenfällig - und eben nicht auf das Lehen als spezifische Leiheform. Denn in Bezug etwa auf Dänemark findet sich der Quellenbegriff - in geringer Quantität und für eine spätere Zeit - zumeist in Verbindung mit der Herstellung herrschaftlicher Bindungen, die durchaus als vasallitisch verstanden werden können. Und im Rechtsstreit um das Herzogtum Schleswig im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts wird die Übertragung in feudo dänischerseits als besondere Form der Landleihe definiert und von anderen Leiheformen abgegrenzt - ausdrücklich auch von anderen zur Abgeltung von Diensten erfolgenden Übertragungen. Zudem findet sich für das zeitweise unter der Herrschaft dänischer Könige stehende Estland eine Verknüpfung der Begriffe feudum und vasallus. [1] Wie Kalla darlegt, war dies in seinem Untersuchungs(zeit)raum jedoch nicht der Fall, woraus er die Empfehlung ableitet, bei den Empfängern der von ihm untersuchten Landleihen von Funktionsträgern zu sprechen (305). Hinsichtlich der Verfügungsgewalt und des Erbrechts konstatiert er eine Angleichung der "normalen Leihe" und des freien Eigens und weist zudem auf die zunehmende Bedeutung des Pfandwesens hin. Weiterführend für zahlreiche Untersuchungsgebiete ist sicherlich die dabei ebenfalls aufgeworfene Frage, wie mit der Nutzung desselben Begriffs für unterschiedliche historische Phänomene umzugehen ist - wenn der Terminus auf etwas anderes verweist als sonst bzw. seine Bedeutung sich im Verlauf des Untersuchungszeitraums erkennbar änderte.
Den im dritten Hauptkapitel behandelten herrschaftlichen Bindungen wird weniger Raum zugestanden, allerdings schon im Kapitel zu den Leiheformen explizit nach der Rolle personaler Bindungen gefragt. Eine Deutung der in dem von ihm erschlossenen Quellenkorpus begegnenden Begriffe milites, fideles, beneficati und homines als Hinweise auf Vasallen klassischer Lesart lehnt Kalla unter anderem ab, da es sich bei den derart bezeichneten Personen mitunter erkennbar um Unfreie handelte. Zugleich hebt er den Umstand hervor, dass die Entlohnung, die nicht selten in der Übertragung von Pfandgut bestand, bei der Gewinnung militärischer Unterstützung von größerer Bedeutung gewesen sei als die normale Leihe (352). Ein sonstiger Zugriff auf Unterstützung, etwa im Rahmen des Lehnswesens, habe für die Bischöfe offenbar nicht bestanden. Im Hochstift Mainz und im Erzstift Salzburg, die Kalla hier zum Vergleich heranzieht, wurde der Vasallenbegriff zwar genutzt, jedoch lediglich vereinzelt, unspezifisch, in Bezug auf unterschiedliche Personengruppen und ohne erkennbare Verbindung zur Landleihe.
Aufbauend auf einer gründlichen Auswertung der Quellen kommt Kalla zu dem Schluss, dass es im Hochstift Bamberg in dem von ihm in den Blick genommenen Zeitraum nicht zur Herausbildung eines "klassischen" Lehnswesens gekommen sei. Die Empfänger hätten über das verliehene Gut in zunehmendem Maße fast wie über Eigengut verfügt. Der Sinn dieser Leihen habe aus bischöflicher Sicht darin bestanden, "Mitglieder der gesellschaftlichen Eliten - Laien wie Weltgeistliche - für dem Bistum geleistete Dienste zu entlohnen oder sich künftige Dienste durch eine Vorleistung zu erkaufen" (379). Allerdings sei diese "normale Leihe" nur eines unter vielen Werkzeugen gewesen, die von den Bischöfen bei der Gewinnung von Unterstützern eingesetzt werden konnten; deren Unterstützung resultierte zudem nicht ausschließlich aus der Aussicht auf materielle Zugewinne.
Im Ganzen kann Kallas Arbeit als gutes Beispiel dafür herangezogen werden, wie bei der Beschäftigung mit der zumindest in Teilen überkommenen Vorstellung vom mittelalterlichen Lehnswesen, die infolge der durch Susan Reynolds und weitere Forschende gesetzten Impulse natürlich nur eine kritische sein kann, weiterhin wesentliche neue Erkenntnisse zur mittelalterlichen Herrschaftsausübung und zu deren strukturellen Grundlagen gewonnen werden können. Denn obgleich Kalla die klassische Vorstellung vom Lehnswesen nachdrücklich ablehnt und sich etwa durch die bewusste Vermeidung des Begriffs "Lehen" davon abgrenzt, bleibt sie für seine äußerst gelungene Arbeit doch ein wesentlicher Bezugspunkt. Abgerundet wird das informative und gut lesbare Werk nicht nur durch die gängigen Verzeichnisse der Abkürzungen, von Quellen und Literatur, sondern auch durch eine umfangreiche Edition bislang nicht im Druck erschienener Bamberger Bischofsurkunden, die eine hervorragende Grundlage für weitere Forschungen nicht nur zum Lehnswesen bieten wird.
Anmerkung:
[1] Siehe dazu und zum Lehnswesen in Dänemark allgemein Oliver Auge / Frederic Zangel: Gensyn med det feudale lensvæsen i middelalderens Danmark. Et nyt forskningsprojekt ved Kiels Universitet, in: Historisk Tidsskrift (Dänemark) 122.1 (2022), 122-140; Frederic Zangel: Zwischen quellenbedingter Unschärfe und didaktisch notwendiger Trennschärfe. Eine Annäherung an das Lehnswesen über das Beispiel Dänemark (mit Südjütland/Schleswig), in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 75 (2024), 296-313.
Sebastian Kalla: Ein Bistum ohne Lehnswesen und Vasallen. Leiheformen und herrschaftliche Bindungen im Hochstift Bamberg des 12. und 13. Jahrhunderts (= Besitz und Beziehungen. Studien zur Verfassungsgeschichte des Mittelalters; Bd. 3), Ostfildern: Thorbecke 2025, 586 S., ISBN 978-3-7995-5041-3, EUR 70,00
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