sehepunkte 25 (2025), Nr. 9

Andreas Schmidt-Schweizer (Hg.): Die westdeutsch-ungarischen Beziehungen in Wirtschaft, Politik und Kultur 1973/74-1987

Andreas Schmidt-Schweizer befasst sich seit drei Jahrzehnten intensiv mit der Geschichte, Politik und Sprache Ungarns. Für seine Beziehungen zu Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg sowie dessen politische und ökonomische Systemtransformation vom kommunistischen hin zu einem demokratischen Staat im Zeichen des ausklingenden Kalten Kriegs kann der durch einschlägige Publikationen ausgewiesene Schmidt-Schweizer als einer der besten Kenner gelten, was er bereits durch eine Edition [1], zwei Monografien [2] und zahlreiche Spezialbeiträge [3] unter Beweis gestellt hat. Nun liegt ein neuer Doppelband für die westdeutsch-ungarischen Beziehungen für wesentliche Abschnitte der 1970er und 1980er Jahre vor, bestehend aus einer fundierten Darstellung und einer inhaltsreichen Quellenedition.

In der Einleitung erklärt der Autor sein Anliegen, die ihn leitenden Fragen und seine an Geschichts- und Politikwissenschaft orientierten Methoden. Die Darstellung beinhaltet drei ausführliche und detaillierte Abschnitte: erstens die Aufnahme diplomatischer Beziehungen vom Dezember 1973 bis zum "Wiederaufflammen des Ost-West-Konflikts" 1979, zweitens die Phase der Ost-West-Konfrontation und weltwirtschaftlichen Rezession 1979/80-1985 sowie drittens die beginnende internationale Entspannung in der Spätphase der Ära Kádár zwischen 1985 und 1987. In diesem sehr feingliedrigen Aufbau der Kapitel der Darstellung geht es u.a. um neue politische Akteure, die Dynamik der Besuchsdiplomatie auf höheren Ebenen, Handels-, Wirtschafts- und Kulturbeziehungen, die Unterzeichnung eines Kulturabkommens, Unternehmenskooperation und Warenverkehr, die ungarndeutsche Minorität, den Faktor Michail Gorbatschow, die innerungarischen Entwicklungen und die "neue Qualität" der zwischenstaatlichen Relationen, den Besuch von Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1986 in Ungarn, die Krise der ungarischen Wirtschaft in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, die bayerisch-ungarischen Wirtschaftsbeziehungen und die Frage eines Milliardenkredits gegen Ende der Ära von Ministerpräsident Franz Josef Strauß sowie die Verhandlungen über die Einrichtung eines Kulturzentrums in Budapest. Schlussbetrachtungen und eine ausführliche erläuternde Chronologie beschließen eine überzeugende Auswertung des komplexen Materials.

Der zweite Band bietet eine mustergültig aufbereitete Quellenedition. Nach der erwähnten differenzierten Analyse legt der Herausgeber insgesamt 145 Dokumente aus deutschen wie ungarischen Archiven vor, die erstmals die wechselseitigen Beobachtungen, Perzeptionen und Urteile aus Diplomatie und Politik der spezifischen bilateralen Beziehungen während der Phase der Entspannung und des folgenden sogenannten Zweiten Kalten Kriegs beinhalten. Geschöpft wird aus dem Bundesarchiv, dem Historischen Archiv des Staatssicherheitsdienstes, dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes und dem Staatsarchiv des Ungarischen Nationalarchivs.

Die zahlreichen Informationen und Erkenntnisse aus Darstellung und Edition können hier nicht rekapituliert werden; einige wenige Beispiele seien aber herausgegriffen: Noch in Helmut Schmidts Kanzlerzeit war seit Herbst 1981 ein Handelsvertrag Ungarns mit den Europäischen Gemeinschaften ein für die Bundesrepublik relevantes Thema. Helmut Kohl hatte schon vor seiner Kanzlerzeit Sondierungsversuche für einen Besuch in Ungarn über CDU-Politiker wie Rainer Barzel und Alois Mertes unternommen. Sein Interesse unterstrich Kohl beim Staatsbesuch von János Kádár in Bonn vom 26. bis 28. April 1982. Nach seiner Wahl zum Bundeskanzler konkretisierten sich seine Überlegungen. In einem Telegramm vom 2. November 1982 an Kádár artikulierte Kohl sein Bestreben, "die wechselseitig nützliche sowie der Stabilität und dem Frieden in Europa dienende bilaterale Zusammenarbeit ununterbrochen fortzusetzen" (Bd. 1, 203). Kohl und sein außenpolitischer Berater Horst Teltschik begriffen die besondere Rolle, die Ungarn für die Bundesrepublik einnehmen konnte. Teltschik traf Ungarns Botschafter Péter Kövari am 29. März 1983 in Bonn und betonte die Kontinuität der Außenpolitik des Kanzlers. Ungarns Bedeutung sei größer als das Land selbst. Mit Blick auf die deutschsprachigen Minderheiten im Osten stellten sich für diese in Ungarn keine größeren Probleme, so dass Bonn keinen Handlungsbedarf in Richtung Budapest signalisierte.

Mit Polen hatte Ungarn vor der Verhängung des Kriegsrechts einen Konkurrenten bei den Beziehungen zur Bundesrepublik. Mit der Reaktivierung der bundesdeutsch-polnischen Beziehungen nach dem Arbeitsbesuch von Außenminister Hans-Dietrich Genscher bei seinem Amtskollegen Stefan Olszowski in Warschau am 6. März 1985 war Ungarns Diplomatie bestrebt, die Beziehungen zu Bonn auf eine neue und höhere Stufe zu heben. Teltschik pflegte fortan enge Kontakte zu Ungarns neuem Botschafter István Horváth in Bonn. Über dessen Vermittlung konnte Teltschik Beziehungen zu Gyula Horn aufbauen, der im März 1985 vom Parteiapparat ins Außenministerium gewechselt war und über beste Kontakte im Kreml verfügte. Vom 8. bis 11. Februar 1986 besuchte Teltschik Budapest, wo er mit den Sekretären des Zentralkomitees Ferenc Havasi und Mátyás Szürös sowie Außenminister Péter Várkonyi, Staatssekretär Horn und dem stellvertretenden Ministerpräsdent József Marjai zusammentraf. Laut Horns Aufzeichnung vom 13. Februar machte Teltschik klar, dass Bonn ein "außergewöhnliches Verhältnis" des Vertrauens zu Budapest aufbauen wolle, ohne dieses gegen andere Warschauer Pakt-Staaten ausspielen zu wollen, wobei der "Anschein einer Einmischung der Bundesrepublik vermieden" werden sollte (Bd. 2 Dok. 121a, 1178-1183). Teltschik signalisierte Bereitschaft zur Unterstützung von Gesprächen zwischen Budapest und Brüssel für ein Abkommen mit der EG wie auch für einen Abbau der CoCom-Embargobestimmungen. Er bot Horn eine abgestimmte Kooperation in internationalen Fragen an (Bd. 1 308 f.), während Marjai im Vier-Augen-Gespräch Brüssels Haltung gegenüber Ungarns erfolglose Bestrebungen für ein Handelsabkommen beklagte: Einerseits werde im Westen immer auf Ungarns spezifischen Weg verwiesen, aber wenn es darauf ankäme, von dessen Gleichbehandlung mit den übrigen Staatshandelsländern gesprochen (Bd. 1 339 f.; Bd. 2 Dok. 121, 1183-1186). Teltschik hielt fest, ein aufgebrachter Marjai habe erregt erklärt: "Nur wenn es politisch nützlich sei, dann gelten die Ungarn als zivilisiert, sonst seien es Horden, die aus Asien gekommen seien" (Bd. 1 340, Anm. 163). Trotz eines Vermittlungsvorschlags der Bundesregierung, demzufolge Ungarn als erstes Land aus dem Bereich des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe die Beziehungen zur Europäischen Gemeinschaft (EG) grundsätzlich regeln und ein Rahmenabkommen mit Brüssel finalisieren sollte, sowie Verhandlungen Kohls mit Thatcher und Genschers mit Andreotti und Dumas im Dezember 1986 konnte erst im September 1988 ein Kooperationsabkommen der EG mit Ungarn unterzeichnet werden.

Die Edition berührt weit mehr als nur die zwischenstaatlichen Beziehungen. Ein Blick ins Namensregister weist weit über diesen Horizont hinaus. Aus den von Schmidt-Schweizer vorgelegten Dokumenten wird eine bundesdeutsche Strategie der Funktionalisierung Ungarns zur Liberalisierung und Öffnung sowie der Unterstützung von Reformen der sozialistischen Staaten in der Mitte Europas erkennbar. Dass diese Vorgehensweise schließlich 1989 via Ungarn zur Erosion des SED-Regimes und 1990 zum Verschwinden der DDR führen sollte, war 1987/88 noch nicht zu denken, geschweige denn zu erwarten gewesen. Doch Voraussetzungen wurden damit für den folgenden politischen Zerfallsprozess geschaffen. Mit diesem Doppelband liegt ein fundamentaler Grundlagenforschungsbeitrag zur Vielfalt der ungarisch-deutschen Beziehungen vor, der von Historischen Instituten an Universitäten aufgrund einer dort herrschenden überbordenden Bürokratie sowie Begutachtungs-, Lehr- und Prüfungsverpflichtungen im Zeichen von "Bologna" kaum mehr vorstellbar ist.


Anmerkungen:

[1] Andreas Schmidt-Schweizer (Hg.): Die politisch-diplomatischen Beziehungen der Wendezeit 1987-1990 (= Quellen zu den Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Ungarn 1949-1990; Bd. 3), Berlin / Boston 2017.

[2] Andreas Schmidt-Schweizer: Vom Reformsozialismus zur Systemtransformation in Ungarn. Politische Veränderungsbestrebungen innerhalb der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP) von 1986 bis 1989, Frankfurt/Main / Berlin 2000; ders.: Politische Geschichte Ungarns 1985-2002. Von der liberalisierten Einparteienherrschaft zur Demokratie in der Konsolidierungsphase (= Südosteuropäische Arbeiten; 132), München 2007.

[3] Z.B. Andreas Schmidt-Schweizer: Die Öffnung der ungarischen Westgrenze für die DDR-Bürger im Sommer 1989. Vorgeschichte, Hintergründe und Schlußfolgerungen, in: Südosteuropa-Mitteilungen 37 (1997), 1, 33-53; ders.: Die politischen Auseinandersetzungen am »Nationalen Runden Tisch«. Systemtransformation auf dem »Verhandlungsweg«?, in: Südosteuropa 46 (1997), Heft 1/2, 37-64; ders.: Motive im Vorfeld der Demontage des »Eisernen Vorhangs« 1987-1989, in: Peter Haslinger (Hg.): Grenze im Kopf, Frankfurt/Main / Berlin / Bern 1999, 127-139.

Rezension über:

Andreas Schmidt-Schweizer (Hg.): Die westdeutsch-ungarischen Beziehungen in Wirtschaft, Politik und Kultur 1973/74-1987. Teilband 1: Darstellung. Teilband 2: Quellenedition (= Quellen zu den Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Ungarn 1949-1990; Bd. 2), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2024, XXIV + 1369 S., ISBN 978-3-11-057843-0, EUR 210,00

Rezension von:
Michael Gehler
Stiftung Universität Hildesheim
Empfohlene Zitierweise:
Michael Gehler: Rezension von: Andreas Schmidt-Schweizer (Hg.): Die westdeutsch-ungarischen Beziehungen in Wirtschaft, Politik und Kultur 1973/74-1987. Teilband 1: Darstellung. Teilband 2: Quellenedition, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 9 [15.09.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/09/39903.html


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