Mit dem Doppelband "Martha und Harry Naujoks. Zwei Leben für die Befreiung", herausgegeben von Kindern und Enkeln von Hamburgern im Widerstand und erschienen in der "Galerie der abseitigen Künste", liegt nicht nur der lange vergriffene Erinnerungsbericht des einstigen Lagerältesten im KZ Sachsenhausen, Harry Naujoks, in einer neu edierten Fassung vor. Die Herausgeber und Autoren machen darüber hinaus die bislang kaum bekannte Lebensgeschichte seiner Frau Martha Naujoks zugänglich - und eröffnen so eine zweifache Perspektive auf politisches Engagement, Verfolgung, Widerstand und Exil in der (deutschen) Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Das Projekt verdient unbedingt Aufmerksamkeit: Die Lebensläufe von Martha und Harry Naujoks stehen exemplarisch für jene Generation politisch aktiver Arbeiter, die zunächst die politischen Kämpfe der Weimarer Republik führten, unter dem nationalsozialistischen Regime verfolgt wurden oder sich im Exil wie nach 1945 erneut um gesellschaftliche und politische Veränderungen oder demokratische Mitgestaltung bemühten. Dass dabei nicht nur ein Klassiker der antifaschistischen Erinnerungsliteratur eine neue, kritisch kontextualisierte Ausgabe erfährt, sondern zugleich ein neues biografisches Kapitel erschlossen wird, macht den großformatigen Doppelband zu einer bedeutenden Edition.
Die Vielzahl der beteiligten Stimmen spiegelt sich auch in der Struktur der beiden Bände wider, die mit ihrer Fülle an Vorworten, Interviews und Einzelbeiträgen zunächst herausfordernd wirkt. So enthalten sie jeweils drei einleitende Vorworte - unter anderem von den Herausgebern, von Rainer Naujoks sowie von der Gruppe "Kinder des Widerstands". Es folgen umfassende biografische Kapitel zu Martha und Harry Naujoks, ergänzt durch thematische Beiträge zu verschiedenen Aspekten von Nationalsozialismus, Widerstand und Erinnerung. Ein wiederkehrendes Thema ist auch der langwierige Kampf von Kommunisten in der Bundesrepublik um die Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus. Die Spannweite reicht dabei von wissenschaftlichen Essays und politischen Reflexionen bis hin zu dokumentarischem Material und Interviews. Zu Wort kommen unter anderem Jürgen Kocka, Ulrich Herbert, Volkhard Knigge, Max Czollek oder Juliane Brauer - eine interessante Mischung aus Zeitzeugenschaft, Forschung und erinnerungspolitischer Intervention. Die Beiträge sind nicht nach einem strengen akademischen Raster, sondern eher in essayistischer Offenheit montiert, was die Lektüre fordernd, aber auch anregend macht.
Der zweite Band - das "Lesebuch 2" - enthält Harry Naujoks' Autobiografie "Mein Leben im KZ Sachsenhausen", die 1987 im Röderberg-Verlag der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und 1989 in der DDR im Dietz-Verlag erschien und seit langem nur noch antiquarisch zu haben ist. Der Text, dessen kollektive Entstehung in dieser Ausgabe deutlich wird, gehört zu den eindrücklichsten Selbstzeugnissen über das Konzentrationslager Sachsenhausen, in dem Naujoks, Kommunist und Widerstandskämpfer, von 1936 bis 1942 inhaftiert war. Als Lagerältester versuchte er, unter extremen Bedingungen ein Mindestmaß an Solidarität und Selbstbehauptung zu ermöglichen.
Die Neuausgabe geht über eine bloße Reproduktion des ursprünglichen Textes hinaus: Sie wurde behutsam editiert, durch Henning Fischer und Hermann Kaienburg mit Kommentaren versehen und durch kenntnisreiche Einleitungen ergänzt. So wird nicht nur der Entstehungskontext des Erinnerungstextes erhellt - einschließlich der Rolle von Erinnerungsnarrativen in der DDR -, sondern auch kritisch reflektiert, welche Deutungsperspektiven und Auslassungen der Text aufweist. Insbesondere die wissenschaftliche Kontextualisierung trägt dazu bei, Naujoks' Bericht als ebenso wertvolles wie komplexes historisches Dokument zu lesen.
Mindestens genauso bedeutsam ist ein fast 200-seitige Rekonstruktion der vergessenen Lebensgeschichte von Martha Naujoks, die den zentralen Beitrag des ersten Bandes darstellt. Sie war über Jahrzehnte hinweg nicht nur Lebenspartnerin, sondern auch politische Weggefährtin von Harry Naujoks - und eine eigenständige Akteurin der Arbeiterbewegung. Ihre Biografie wurde bislang kaum beachtet. Dabei war sie es, die nach der Inhaftierung ihres Mannes unter großen persönlichen Risiken für seine Versorgung und politische Rehabilitation kämpfte, im Exil zentrale Kontakte knüpfte und nach 1945 publizistisch wie organisatorisch tätig blieb.
Henning Fischer rekonstruiert diese Biografie auf Basis umfangreicher Archivrecherchen, Interviews und privater Quellen; es konnte u. a. ihre Komintern-Kaderakte ausgewertet werden. Martha war mit Harry Naujoks von 1923 an in der KPD Hamburg aktiv. Sie ging 1935 nach Moskau ins Exil, wurde inmitten des Großen Terrors aus der Partei ausgeschlossen, erkämpfte die Wiederaufnahme, besuchte die Parteischule und kehrte im Juni 1945 nach Deutschland zurück. Es gelingt Fischer, Martha Naujoks nicht nur als Begleiterin ihres Mannes zu porträtieren, sondern als Frau, deren politische Haltung, Fürsorge und Entschlossenheit wesentlich zur Entstehung und Nachwirkung des Buches von Harry Naujoks beigetragen haben. Ihre Geschichte ergänzt nicht nur das Bild einer antifaschistischen Biografie, sondern hinterfragt auch gängige Erzählmuster männlich dominierter Erinnerungskultur.
Der Doppelband besticht nicht nur durch seinen Inhalt, sondern auch durch seine Ausstattung. Layout, Bildmaterial und Druckqualität lassen erkennen, mit welcher Sorgfalt die Herausgeber gearbeitet haben. Auch wenn mitunter mancher Abdruck einer Quelle etwas redundant erscheinen mag, untermauern diese Quellen doch den Gesamteindruck, dass hier gegen den Zeitgeist ein schwergewichtiges Werk - von dem bislang kein E-Book existiert und das man wegen Größe und Gewicht kaum im Zug oder am Strand lesen kann - vorgelegt wurde, die das Buch auch haptisch und optisch zu einem eindrucksvollen Zeugnis gelebter Erinnerungskultur macht.
Besonders hervorzuheben ist die Gestaltung der beiden Bände, die nicht nur ansprechend, sondern auch konzeptionell durchdacht ist: Zwei Leben - zwei Perspektiven - in einem Buch vereint. Immer wieder greift die Gestaltung auf das eindringliche Gemälde von Felix Nussbaum aus den Jahren 1943/44 zurück, das posthum den Titel "Die Verdammten" erhielt und den Maler mit seiner Frau Felka Platek zeigt. Dieses Bild ist auf dem Schuber zu finden und zieht sich als visuelle Klammer durch beide Bände. Es verleiht dem Projekt zusätzliche emotionale Tiefe und historische Resonanz. Es verweist auf das existenzielle Moment von Verfolgung, Flucht und Vernichtung und spiegelt zugleich die Grundhaltung des gesamten Projekts wider: Erinnern heißt nicht nur bewahren, sondern sichtbar machen, was andernorts zu verschwinden droht. Damit liegt ein Werk vor, das weit über den engeren Kreis geschichtswissenschaftlich Interessierter hinaus Bedeutung besitzt. Es bietet eine doppelte Perspektive auf Verfolgung und Widerstand im Nationalsozialismus, unterschlägt den fatalen Einfluss des Stalin-Regimes auf die Arbeiterbewegung nicht, dokumentiert ein eindrückliches Beispiel weiblicher Erinnerungsgeschichte und leistet einen wichtigen Beitrag zur Erforschung von Widerstand, Exil und politischen Biografien im 20. Jahrhundert.
Kinder des Widerstands (Hgg.): Martha und Harry Naujoks. Zwei Leben für die Befreiung, Hamburg: Galerie der abseitigen Künste 2024, 2 Bde., 1418 S., ISBN 978-3-948478-17-9 , EUR 59,00
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