sehepunkte 25 (2025), Nr. 11

Benjamin Ziemann: Gesellschaft ohne Zentrum

Die theoretischen Grabenkämpfe in den Geschichtswissenschaften scheinen lange passé. Wenn sich früher Fronten zwischen Bielefelder Gesellschaftsgeschichte und einem aufgeklärten Neohistorismus der Grautöne, zwischen Struktur- und Ereignisgeschichte, Funktionalisten und Intentionalisten eröffneten, sorgte spätestens die Buntheit der Kulturgeschichte für Auflockerung. Der Drang unter Historikern, sich zu einer Schule zu bekennen, hat deutlich nachgelassen. Benjamin Ziemann, Professor für neuere deutsche Geschichte in Sheffield, möchte nun mit einem alternativen Bielefelder Weg, nämlich der Systemtheorie Niklas Luhmanns, zum historischen Verständnis moderner Gesellschaften beitragen. Sein anspruchsvolles Vorhaben betrachtet die deutsche Gesellschaft vom Kaiserreich bis in die Bundesrepublik unter dem Leitgedanken der funktionalen Differenzierung. Dieser Fokus fungiert als Kriterium für Modernität "an der Schnittstelle von Soziologie und Geschichtswissenschaft" und soll ermöglichen, gesellschaftliche Teilsysteme, Evolutionen und Codierungen über Epochen hinweg analysieren.

Anhand der hohen Dynamik funktionaler Differenzierung im Kaiserreich kann Ziemann auf diese Weise einen Modernisierungsnachweis erbringen, ohne sich auf normative Erwägungen (Demokratisierungsgrad, Geschlechterverhältnis, Sozialreformen, Bildung etc.) einlassen zu müssen. Auch die kontrovers geführte Debatte darüber, wie modern der Nationalsozialismus denn gewesen sei, lässt sich mit einem Handstreich erledigen. Die Modernität des Nationalsozialismus scheint erwiesen, denn die Funktionssysteme im 'Dritten Reich' gehorchten zweifelsohne Logiken, die sich systemtheoretisch beschreiben lassen, wenn man denn für das Rechtssystem eine "binäre Entgegensetzung" wie "völkisch"/"verjudet" als "kommunikativen Code" auffassen oder die Massenmedien durch die Unterscheidung von Information/Nichtinformation verstehen möchte - um sich dann mit den nationalsozialistischen Programmierungsversuchen dieser Codes zu beschäftigen. Ob die "weitgehende Autonomie des Rechtssystems" im Nationalsozialismus und der Verzicht auf eine "strukturelle Kopplung" mit der Verfassung (die aus offensichtlichen Gründen im Unrechtsstaat keinen Wert besaß) im Vokabular der Systemtheorie einen besonderen Mehrwert besitzt, ist schwer zu sagen. Auch die "Rassengesetzgebung" als "Medizinisierung" des Rechts zu fassen, verlangt semantisch sensiblen Leserinnen und Lesern einiges ab. Ertragreicher als derlei Sprachspiele sind Ziemanns Überlegungen, inwiefern beispielsweise Wirtschaft und Erziehung als gesellschaftliche Teilsysteme über die Erfolgsmedien (Geld, Macht) oder Steuerungskapazitäten verfügten. Durch die systemtheoretische Brille lässt sich erkennen (und bestätigen), wie dysfunktional und improvisiert die Nationalsozialisten in Schulpolitik und Ökonomie agierten.

Ziemanns Ankündigung, mit seinem Ansatz "eine methodische Erneuerung der Gesellschaftsgeschichte" zu eröffnen (98), schürt allerdings Erwartungen, die seine hier vorgelegten Studien kaum einlösen können. Dafür sind die gewählten Themen einerseits zu abseitig; andererseits kranken seine Untersuchungen an der strukturellen Schwäche der Systemtheorie, zwar Abläufe zu beobachten, kaum jedoch Akteure und Handlungsgründe sichtbar zu machen, während sich wie von Geisterhand das Evolutionsprogramm funktionaler Differenzierung vollzieht. Die in Aussicht gestellte Anschaulichkeit bleibt der Autor auf den ihm vertrauten thematischen Feldern Friedensbewegung, Kirche und Sport schuldig.

Ausführlich diskutiert er die Visualisierung von Antikriegs- und Anti-Atomplakaten, ohne dass es im Buch eine einzige Abbildung gibt. Während die binäre Codierung Frieden/Krieg wohl auch ohne systemtheoretische Rahmung verständlich geblieben wäre, zeigt sich hier ein weiteres Mal, dass die Suche nach einfachen Gegensätzen Schattierungen eher verschwimmen lässt. "Die Bestimmung des Friedens als Höchstwert der Friedensbewegung ist ohne die Zurückweisung von Rüstung und Gewalt nicht möglich." (193) Dieser Satz scheint dann so wahr wie banal. Was allerdings auf der einen Seite Mobilisierung und Zuspitzung bewirkt, fügt auf der anderen Seite wieder viel Disparates zusammen - wie die Forschungen zu Friedens- und Ökologiebewegung hinreichend belegen. Ob wiederum die "Codierung des modernen Sports" über die "Differenz von Gewinnen und Verlieren, von Sieg oder Niederlage" die maßgebliche "Form bereitstellt, mit der der Sport operieren und zugleich beobachtet werden kann" (220), mag eine Kulturhistorikerin mit guten Gründen bestreiten. Darin die Modernität des Sports erkennen zu wollen und schließlich noch die Wettkampf- und Regelungsdichte als "Sportifizierung" zu begreifen (230f.), bewegt sich im Grenzbereich zur Wissenschaftssatire.

Interessant ist auch Ziemanns Handhabung des Vergleichs als sozialhistorischer Königsdisziplin: Um den Rückgang der Teilnahme am Gottesdienst zu relativieren, führt Ziemann an, dass die Zahl der Kirchgänger in den 1980er Jahren immer die Menge Fußballbundesligazuschauern in den Stadien um ein Vielfaches übertreffe! (169) Kritische Sozialforscher könnten nun fragen, ob man nicht auch die zweite Bundesliga und die Amateurligen dazunehmen sollte. Vielleicht sogar Handball oder Basketball - auch bei den Frauen ...

Es liegt ein Problem in der Anlage des Buches, die funktionale Differenzierung gleichsam in Randbereichen aufzusuchen. Von Ökonomie und Politik, von Klassen und Sozialmilieus ist in den ausgewählten Fallbeispielen kaum die Rede. Insofern hätte Hans-Ulrich Wehler wenig Probleme gehabt, Ziemanns Angriff zu kontern. Eine Antwort vom Platzhirsch der Sozialgeschichte hätte man gern gelesen, allein weil ihm, der herkulisch nach Erklärungen suchte, der Überlegenheitsgestus eines Luhmannianismus ohne Ironie bis aufs Blut gereizt hätte. Fraglich ist allerdings, ob Sieg und Niederlage hier im System Wissenschaft dem Beispiel funktionaler Differenzierung gefolgt wären.

Rezension über:

Benjamin Ziemann: Gesellschaft ohne Zentrum. Deutschland in der differenzierten Moderne, Stuttgart: Reclam 2024, 335 S., ISBN 978-3-15-011423-0, EUR 32,00

Rezension von:
Jens Hacke
Frankfurt/M.
Empfohlene Zitierweise:
Jens Hacke: Rezension von: Benjamin Ziemann: Gesellschaft ohne Zentrum. Deutschland in der differenzierten Moderne, Stuttgart: Reclam 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 11 [15.11.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/11/39294.html


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