Als Judith, Tochter Karls des Kahlen, im Frühjahr 862, kaum zwanzigjährig, aber bereits zweimal verwitwet, mit dem flämischen Adligen Balduin ins Reich ihres Vetters König Lothar II. floh, war dies ein schwerwiegender Affront gegen die Autorität des westfränkischen Königs. Erst die Entscheidung Papst Nikolaus' I. zugunsten der Flüchtigen beendete den Konflikt formal; Balduin erhielt wohl daraufhin von seinem königlichen Schwiegervater Herrschaftsrechte im pagus Flandrensis.
Die Rollen Judiths und Balduins als Gründungsfiguren der mittelalterlichen Herrschaft Flandern wurden in einer 2023 ausgestrahlten belgischen TV-Dokumentationsreihe zur flämischen Geschichte in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Dabei thematisierte man auch die wissenschaftliche Debatte um ein Mitte der 2000er Jahre vor der Genter Abteikirche St. Peter entdecktes Frauengrab, das vorsichtig mit der Karolingerin Judith in Verbindung gebracht wurde.
Anlass genug für eine interdisziplinäre Betrachtung der historischen Judith: Der von Steven Vanderputten herausgegebene englischsprachige Sammelband vereint Beiträge aus Geschichtswissenschaft, Archäologie und Bioanthropologie, die Judiths biographische Stationen, ihr dynastisches Nachleben sowie materielle wie literarische Spuren ihrer Erinnerung kritisch beleuchten. Ziel ist - so Vanderputten in der Einleitung - eine "meta-biography" (23, 37, 45), die weniger das kaum rekonstruierbare Leben Judiths nachzeichnet als vielmehr die Kontexte, Funktionen und Deutungen ihrer Person im dynastischen und kulturellen Gedächtnis sichtbar macht. Vanderputtens Verständnis von 'Meta-Biographie' meint dabei eher eine diachrone und synchrone Erweiterung einer fragmentarischen Lebensgeschichte als eine relationale Untersuchung unterschiedlicher biographischer Narrative.
In der Einleitung (17-45) problematisiert Vanderputten Judiths begrenzte Sichtbarkeit in historiographischen und urkundlichen Quellen jenseits der spektakulären Flucht, während sie in genealogischen Überlieferungen als dynastische Schlüsselfigur präsent blieb, wenn auch zunehmend funktionalisiert und später durch alternative Gründungsnarrative überformt. Die Einleitung bietet so eine Zusammenschau der mittelalterlichen wie neuzeitlichen Überlieferung zu Judith dar und greift daher bereits Aspekte der folgenden Aufsätze auf.
Die sieben Beiträge gliedern sich in drei Sektionen: Charles West, Brigitte Meijns und Els De Paermentier nähern sich dem Thema aus historischer Perspektive. West rekonstruiert quellenfundiert Judiths biographische Stationen mit besonderem Augenmerk auf der Flucht und ihrem soziopolitischen Hintergrund (47-64). Er würdigt auch Judiths Rolle als zweimalige westsächsische Königin - ein Aspekt, der im Titel des Sammelbandes ausgeklammert wird, da Judiths Scharnierfunktion zwischen dem karolingischen Königs- und dem flämischen Grafenhaus, als dessen Mitgründerin sie erscheint, in den Fokus gerückt werden soll. Daher beschäftigt sich der Beitrag von Meijns (65-88) mit der Entstehung und frühen Entwicklung der Grafschaft Flandern bis zu Arnulf I. (gestorben 965) und unterzieht die thesenreiche ältere Forschung einer kritischen Prüfung. De Paermentier (89-106) untersucht die Gräfinnen von Flandern von Judith bis Clementia (gestorben um 1133), der Gemahlin Roberts II., und zeigt die Bedeutung und aktive Rolle vieler dieser Frauen "within a patriarchal society in which male succession and leadership still strongly prevailed" (105).
Lisa Demets verlagert den Blick "From History to Romance" (107-136) und verfolgt, wie sich die Erzählung von Judiths Beziehung zu Balduin in der spätmittelalterlichen flämischen Historiographie "from a political to a social history" (134) gewandelt und die zunächst zentrale Frage ihres Konsenses zunehmend an Bedeutung verloren habe.
Die letzten drei Beiträge widmen sich dem Genter Grab S127: Georges Declercq (137-157) prüft seine frühere Zuschreibung an Judith und hält es aufgrund des Schweigens der Klosterquellen für "almost certain" (157), dass sie nicht in St. Peter bestattet wurde. Geert Vermeiren und Marie-Anne Bru (157-176) stellen den archäologischen Kontext der insgesamt sieben entdeckten Gräber vor und deuten die ältesten Gräber (S150, S127, S140) als Bestattungen von Individuen hohen sozialen Ranges. Isabelle de Groote, Jessica Palmer et al. (177-205) präsentieren die Ergebnisse biomolekularer und osteologischer Analysen der Gräberfunde. Demnach handelte es sich bei der in S127 bestatteten Person um eine großgewachsene Frau mittleren Alters, die zwischen 774 und 993 begraben wurde, wahrscheinlich aus Nordfrankreich oder Flandern stammte, jedoch Teile ihrer Jugend in Wessex verbracht haben könnte und deren Ernährung reicher an tierischen Proteinen war als bei vielen ihrer Zeitgenossen. Die Anzahl der gewonnenen Einzelnukleotid-Polymorphismen (SNPs) war zu gering für eine aussagekräftige aDNA-Analyse. "While none of the analytical modalities furnish compelling grounds for outright dismissal of the hypothesis attributing the remains to Judith, a definitive affirmation of this assertion remains elusive" (203).
Der Anhang bietet eine technische Beschreibung der bioanthropologischen Methoden (219-225), eine Liste der zitierten Urkunden (209-212) sowie grafische Darstellungen der von Demets untersuchten narrativen Strukturen (214-217). In einer Bibliographie werden alle zitierten Quellen und Literaturtitel noch einmal gesammelt aufgeführt (227-254).
Stellenweise hätte der Band von einer sorgfältigeren Endkorrektur profitiert (z. B. prominent im letzten Satz der Einleitung (45): "Although type of history tends to be frustrating, [...]"); (214) muss es "King Charles" statt "King Baldwin" heißen. Zudem wäre eine stärkere Berücksichtigung übergreifender deutschsprachiger Literatur zu den Karolingern wünschenswert gewesen (siehe "Bibliography"). Dies mindert jedoch nicht den hohen Erkenntniswert des Sammelbandes, der die wenigen überlieferten Quellen zu einer der schillerndsten Frauengestalten des 9. Jahrhunderts neu einordnet, kontextualisiert und durch seinen interdisziplinären Zuschnitt überzeugt.
Steven Vanderputten (ed.): Judith of West Francia, Carolingian Princess and First Countess of Flanders. Biographical Elements and Legacy, Turnhout: Brepols 2024, 254 S., ISBN 978-2-503-60461-9, EUR 70,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.