sehepunkte 25 (2025), Nr. 11

Jean-Claude Hocquet: The Merchant of Venice

Das Werk von Jean-Claude Hocquet reiht sich in eine lange Tradition wirtschafts- und sozialhistorischer Studien über die Republik Venedig ein, die seit Jahrzehnten als Modellfall für die Untersuchung mittelalterlicher Urbanität, Seehandelsnetze und aristokratischer Selbstbehauptung gilt. Mit dem provokant gewählten Titel The Merchant of Venice verweist Hocquet nicht nur auf Shakespeares gleichnamiges Stück, sondern auch auf die tiefere Verbindung zwischen venezianischer Literatur, ökonomischer Praxis und politischer Kultur.

Das Buch fokussiert die Aktivität der Patrizier im Spätmittelalter und fragt nach den sozialen, ökonomischen und institutionellen Mechanismen, durch die die Führungsschicht der Serenissima ihre Vormachtstellung im Handel und in der Politik behauptete. Ziel der Studie ist es, den Patrizierstand nicht allein als politische Elite, sondern auch als aktiver Akteur im internationalen Waren- und Finanzverkehr darzustellen. Damit erweitert Hocquet die Perspektive auf die venezianische Gesellschaft um eine integrative Analyse, die Handel, soziale Netzwerke und politische Entscheidungsprozesse miteinander verknüpft. Das Buch erscheint im renommierten Verlag Brill, der sich durch hochwertige, quellengesättigte Arbeiten auszeichnet und damit eine internationale wissenschaftliche Leserschaft anspricht.

Hocquets Monographie ist in vierzehn Kapitel gegliedert, die jeweils einem zentralen Aspekt der patrizischen Aktivität gewidmet sind. Im ersten Teil zeichnet er die Entwicklung des Großen Rates und der Ratsgremien nach und zeigt, wie sich die Oligarchie seit dem 13. Jahrhundert konsolidierte und ein exklusives Patriziat herausbildete. Besondere Aufmerksamkeit gilt den rechtlichen Schranken, die Nicht-Patrizier systematisch vom Zugang zu politischen und ökonomischen Schlüsselpositionen ausschlossen.

Im zweiten Teil wird hervorgehoben, dass die venezianischen Patrizier - anders als in vielen anderen italienischen Stadtstaaten - selbst als Händler auftraten. Anhand von Zollregistern, Handelsverträgen und Schiffslisten rekonstruiert er ihre Präsenz im mediterranen und transalpinen Handel.

Das dritte Kapitel widmet sich den finanziellen Netzwerken und dem Kreditwesen, wobei notarielle Urkunden und Darlehenspraktiken eine zentrale Rolle spielen. Hocquet zeigt, wie familiäre Solidarität und ökonomisches Risiko ein spannungsreiches Verhältnis bildeten, das für die Stabilität der Republik von entscheidender Bedeutung war.

Besonders eindringlich gerät die Analyse des patrizischen Hauses als ökonomische Einheit. Eheverträge, Mitgiftregelungen und Erbteilungen werden als strategische Instrumente dargestellt, die nicht nur den Reichtum der Familie sichern, sondern auch ihre politische Stellung stärken sollten. Anschließend widmet sich Hocquet der symbolischen Dimension der patrizischen Identität, also Palastarchitektur, Stiftungen und Kunstförderung, und betont die enge Verzahnung zwischen ökonomischem Kapital und kultureller Legitimation.

Im letzten Kapitel schließlich thematisiert er die Krisen des 15. Jahrhunderts, die Konkurrenz durch Genua, Mailand und das Osmanische Reich sowie die strukturellen Veränderungen in den Handelsrouten. Besonders interessant ist die Analyse der Anpassungsstrategien der Patrizier, die es ihnen erlaubten, trotz dieser Herausforderungen ihre Vorrangstellung zu behaupten.

Die Stärken des Werkes liegen in der konsequenten Verbindung von politischer und wirtschaftlicher Geschichte. Hocquet überzeugt durch die außerordentliche Breite seiner Quellenbasis. Er stützt sich nicht nur auf die klassischen staatlichen Archive Venedigs, sondern zieht auch notarielle Dokumente, private Familienregister und kommerzielle Korrespondenz heran. Diese Vielschichtigkeit erlaubt es, die Patrizier nicht nur als abstrakte politische Elite, sondern als handelnde Individuen mit spezifischen Interessen, Risiken und Handlungsspielräumen sichtbar zu machen. Damit korrigiert er ältere Narrative, die das Patriziat als abgeschottete Aristokratie charakterisierten, und zeigt stattdessen die enge Verflechtung von politischer Herrschaft und ökonomischer Praxis. Besonders gelungen ist die Analyse des Familienhaushalts als ökonomische Einheit, die Vergleiche mit anderen europäischen Eliten ermöglicht, etwa mit den Kaufmannsfamilien in Florenz oder den Hanseaten im Norden.

Dennoch lassen sich einige Schwächen benennen. Erstens bleibt die theoretische Rahmung vergleichsweise zurückhaltend. Während Hocquet in der empirischen Analyse brilliert, hätte eine stärkere Einbettung in Konzepte der Eliten- und Netzwerkforschung den analytischen Mehrwert noch gesteigert. Zweitens konzentriert sich die Darstellung stark auf die führenden Familien und weniger auf die Dynamik zwischen Patriziern und den breiteren Schichten der städtischen Gesellschaft. Fragen nach sozialer Mobilität, nach der Rolle der cittadini oder nach dem Verhältnis zu ausländischen Kaufleuten werden nur am Rande behandelt. Auch der bewusst gewählte Titel The Merchant of Venice weckt Erwartungen, die das Buch nur teilweise erfüllt. Wer eine direkte Auseinandersetzung mit literarischen Quellen oder eine Shakespeare-Interpretation erwartet, wird enttäuscht sein. Hocquet verweist zwar auf kulturelle Repräsentationen, bleibt aber im Wesentlichen der klassischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte verpflichtet.

Trotz dieser Einschränkungen liefert das Werk einen wichtigen Beitrag, indem es die Patrizier als aktive Händler rehabilitiert. Gerade angesichts der Forschung, die Venedig primär als politische Republik oder als "Staat ohne Land" betrachtet hat, ist Hocquets Betonung der ökonomischen Praxis ein innovativer Akzent. Die Studie ist quellengesättigt, klar strukturiert und detailreich. Sie macht deutlich, dass die politische Vormachtstellung des Patriziats nicht ohne seine ökonomische Basis verstanden werden kann. Handel, Kreditwesen und familiäre Strategien bildeten das Fundament, auf dem die aristokratische Republik ruhte.

Für die Forschung bietet das Buch mehrere neue Perspektiven: Es lädt zu einem Vergleich mit anderen europäischen Handelseliten ein, es sensibilisiert für die ökonomische Dimension aristokratischer Herrschaft und es regt an, die Verschränkung von Politik, Wirtschaft und Kultur neu zu denken. Insgesamt kann die Monographie allen Forschenden empfohlen werden, die sich mit der Geschichte Venedigs, mit der Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Mittelalters oder mit Fragen nach Elitenbildung und urbaner Herrschaft beschäftigen. Auch wenn die theoretische Reflexion stellenweise hinter der empirischen Detailfülle zurückbleibt, stellt Hocquets Buch einen gewichtigen Beitrag zur internationalen Mediävistik dar - ein Werk, das nicht nur durch seine archivalische Fundierung, sondern auch durch seine klare Argumentation besticht.

Rezension über:

Jean-Claude Hocquet: The Merchant of Venice. The Activity of Patricians in the Late Middle Ages (= The Medieval Mediterranean; Vol. 144), Leiden / Boston: Brill 2025, VIII + 306 S., ISBN 978-90-04-70691-0, EUR 180,83

Rezension von:
Spyridon P. Panagopoulos
Patras
Empfohlene Zitierweise:
Spyridon P. Panagopoulos: Rezension von: Jean-Claude Hocquet: The Merchant of Venice. The Activity of Patricians in the Late Middle Ages, Leiden / Boston: Brill 2025, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 11 [15.11.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/11/40146.html


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