Die Diskussion darüber, ob der Begriff 'Mittelalter' für die Zeit von circa 500 bis 1500 tatsächlich die richtige Wahl ist, wird periodisch immer wieder ausgetragen. Dabei ist es weitestgehend Konsens, dass in der entsprechenden Zeitspanne für Lateineuropa je nach Region und Jahrhundert von zeitlich vielfach versetzten, sich überlagernden bzw. gegensätzlichen Entwicklungen auszugehen ist. Ein einendes Element der Epoche war jedoch die weitestgehende Prävalenz monarchischer Herrschaft und das damit in enger Verbindung stehende Vorhandensein von Dynastien.
In der Forschung überwiegen bei Darstellungen zu dieser Thematik bisher vor allem Bücher nationalen Zuschnitts. Auch wenn mittlerweile durchaus einzelne Werke mit einem übergreifenden Fokus vorliegen, so fehlte es doch bis dato noch an einer das Gebiet des heutigen Europas und seiner Randregionen in den Blick nehmenden Darstellung für das gesamte Mittelalter. Mit der Arbeit von Robert Bartlett liegt nun erstmals eine Untersuchung dieses Zuschnitts vor. Eine Monographie, die sich zum Ziel setzt, die Entwicklung und Rolle von Dynastien in ganz Lateineuropa und Byzanz über ein ganzes Jahrtausend hinweg zu untersuchen, ist dabei zweifelsohne eine wissenschaftliche Herkulesaufgabe.
Unter dem Titel "The Life Cycle" widmet sich Bartlett in der ersten Hälfte seines Buchs ausführlich den verschiedenen Aspekten, die für das Ent- und Bestehen einer Dynastie zentral waren, beginnend mit dem dynastischen Heiratsverhalten (1-51) über die Geburt von Kindern (52-88), die Beziehungen von Vätern zu ihren Söhnen (89-123), weibliche Herrschaft (124-154), Konkubinen und uneheliche Kinder (155-186), innerdynastische Konflikte (187-239) bis hin zum Tod des Herrschers (240-280). Unter dem Obertitel "A Sense of Dynasty" werden anschließend Namensgebung und Zählung von Herrschern (283-310), Heilige, Bilder, Heraldik und Stammbäume (311-339), Astrologie und Prophezeiungen (340-359), falsche Herrscher (360-378), das Entstehen neuer Familien und Königreiche (379-396) und die Beziehungen von Dynastien zur "Non-Dynastic World" (397-428) beschrieben.
Dabei stellt Bartlett, sprachlich ansprechend, in den einzelnen Kapiteln unter Hinzuziehen eines großen Quellenkorpus eine Vielzahl von Beispielen zusammen, anhand derer er jeweils die Entwicklungen vom Früh- bis zum Spätmittelalter aufzeigt. Hierin, sowie im Willen zur Synthese, liegt zweifelsohne der große Wert der Arbeit. Die Lektüre der einzelnen Kapitel offenbart jedoch auch, dass die vorgestellten Fälle vielfach so unterschiedlich sind, dass sie sich kaum auf einen Nenner bringen lassen: Was verbindet die Tochter des Königs von Wessex, die 919 den westfränkischen König Karl heiratete, noch mit jener byzantinischen Prinzessin, die Anfang des 14. Jahrhunderts Ehefrau des Khans der Goldenen Horde war? In beiden Fällen handelt es sich sicherlich um Ehen, die Kulturkreise verbanden und große Anforderungen an die Anpassungsfähigkeiten der jeweiligen Frauen stellten. Aber darüber hinaus sind die Rückschlüsse, die etwa im Kapitel zu Ehen formuliert werden, teils vorhersehbar. Wertungen wie "The concrete benefits of marriage alliances with distant courts could be valuable over a long term and in sometimes unforeseen ways" (24) oder "marriages with foreign princesses might have disadvantages too" (25) seien nur exemplarisch herausgegriffen.
Bei einer Synthese wie der vorliegenden ist es klar, dass nicht jeder Einzelaspekt umfassend ausgeleuchtet werden kann. Allerdings fällt auf, dass sich im Literaturverzeichnis in der ganz überwiegenden Zahl vor allem englisch-, französisch- und deutschsprachige sowie einige wenige spanische Titel finden. Bei einem Buch, das mit dem Anspruch antritt, ganz Lateineuropa in den Blick zu nehmen, hätten zudem Studien in anderen europäischen Sprachen, etwa Italienisch, Tschechisch, Polnisch oder Schwedisch, herangezogen werden müssen.
Auch die Wertungen im Detail überzeugen nicht immer. Die unterschiedlichen Todeserzählungen in der mittelalterlichen Historiographie, die im Kapitel zum Tod des Herrschers wiederholt aufgegriffen werden, sind häufig Vorstellungen von einem guten oder schlechten Tod verpflichtet. [1] Sie als Grundlage für die quantitative Auswertung von Todesfällen mit Blick auf Ermordungen oder den Tod auf der Jagd zu nutzen (241-243), ist entsprechend problematisch.
Als Wahlmonarchie, in der wechselnde Dynastien den König stellten, fällt es Bartlett zudem wiederholt schwer, das römisch-deutsche Reich in seine Synthese einzuordnen. So bedient er bei der Frage der Landesteilungen das ältere Narrativ, diese hätten stets "the risk of diminishing the family's overall power" (205) mit sich gebracht, was in der deutschen Forschung mittlerweile durchaus umstritten ist. [2] Die Heidelberger Heiliggeistkirche war zudem beim Tod König Ruprechts I. im Jahr 1410 keinesfalls "the burial church of the electors" (272), vielmehr wurde die Tradition mit seinem Begräbnis dort überhaupt erst begründet. [3] Die von Bartlett herangezogene Stelle bei Otto von Freising, wonach sich das Reich dadurch auszeichne, dass die Könige gewählt und nicht aufgrund ihrer Blutsverwandtschaft erhöht würden (399), ist vor allem im Kontext der Wahl von 1152 zu sehen, bei der Friedrich Barbarossa und nicht Friedrich von Rothenburg, der Sohn des verstorbenen Konrads III., König wurde. Dass Otto als Biograph des Kaisers an dieser Stelle die Wahlmonarchie prominent hervorhebt, sagte zwar durchaus etwas über diese, aber noch weit mehr über den Legitimationsbedarf bei diesem konkreten Akt aus. [4]
Trotz der beschriebenen Monita ist Robert Bartlett mit "Dynastic Politics" eine gut lesbare Synthese gelungen, die vielfach quellennah, vor allem auf Grundlage der englisch-, französisch- und deutschsprachigen Forschung, den ersten Überblick über dynastische Herrschaft und Dynamiken im gesamten lateineuropäischen und byzantinischen Mittelalter bietet. Die schwierige Vergleichbarkeit der Thematik über 1000 Jahre hinweg allerdings macht der Studie zu schaffen. Herrscherdynastien waren zweifelsohne ein einendes Charakteristikum des Mittelalters. So ganz einfach auf einen raum- und zeitübergreifenden Nenner lassen sie sich dann aber doch nicht bringen.
Anmerkungen:
[1] Hierzu Manuel Kamenzin: Die Tode der römisch-deutschen Könige und Kaiser (1150-1349) (= Mittelalter-Forschungen Bd. 64), Ostfildern 2020.
[2] Mit weiterer Literatur: Alexander Sembdner: Landes- und Herrschaftsteilungen im spätmittelalterlichen Reich. Bedeutungen, Funktionen und Implikationen eines verfassungsgeschichtlichen Phänomens, in: Mitteilungen der Residenzenkommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen NF 9 (2020), 61-73.
[3] Zu den Pfalzgrafen bei Rhein Thorsten Huthwelker: Tod und Grablege der Pfalzgrafen bei Rhein im Spätmittelalter (1327-1508) (= Heidelberger Veröffentlichungen zur Landesgeschichte und Landeskunde Bd. 14), Heidelberg 2009.
[4] Mit weiterer Forschung: Knut Görich: Friedrich Barbarossa. Eine Biographie, München 2011, 93-107.
Robert Bartlett: Blood Royal. Dynastic Politics in Medieval Europe (= The James Lydon lectures in medieval history and culture), Cambridge: Cambridge University Press 2020, 660 S., 22 Abb., ISBN 978-1-108-79616-3, EUR 16,99
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.