sehepunkte 24 (2024), Nr. 5

Sylvia Dietl: Transformation und Neustrukturierung des DDR-Rundfunks im Prozess der Wiedervereinigung Deutschlands

In letzter Zeit ist die Transformationsphase der vormals kommunistisch beherrschten Gesellschaften in Osteuropa ab 1990/91 zu einem Gegenstand der Zeitgeschichtsforschung geworden. Das resultiert unter anderem aus einer als problematisch wahrgenommenen Gegenwart und der Suche nach ihren historischen Ursachen. Im deutschen Fall stellt die Konjunktur einschlägiger Forschungen sicher auch eine Reaktion auf die erneute Polarisierung des nach wie vor streng entlang der Kategorien Ost und West strukturierten Diskurses mit seinen gegenseitigen Schuldzuweisungen dar.

Auf den ersten Blick scheint sich die politologische Dissertation von Sylvia Dietl zur Transformation des Rundfunks im Einigungsprozess ganz in diesen Trend zu fügen. Doch dies ist nicht der Fall. Denn der behandelte Zeitraum umfasst im Wesentlichen nur das Ende des zentralistischen DDR-Rundfunks und die Entstehung des politischen Rahmens für seine öffentlich-rechtlichen Nachfolger zwischen dem Umbruch in der DDR im Herbst 1989 bis zum Start der neuen Landessender am 1. Januar 1992. Zudem liegt Dietls Arbeit ein enger Transformationsbegriff zugrunde, der sich allein auf die Ebene der Medienpolitik und der institutionellen Ordnung bezieht, während die Inhalte der Programme und deren Rezeption nicht Teil der Analyse sind. Während in der aktuellen Forschung eher kulturelle und gesellschaftsbezogene Fragen im Vordergrund stehen, folgt die Studie den Konzepten der frühen, von westdeutschen Forschern dominierten sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung der 1990er Jahre.

Dem entspricht die methodisch-theoretische Herangehensweise. Die qualitative Politikfeldanalyse verfolgt einen auf die politischen und medialen Eliten fokussierten Ansatz, der danach fragt, "welche Akteure mit welchen Interessen [...] das strukturelle Ergebnis der Rundfunkneuordnung in Ostdeutschland bestimmt" (21) haben. Im Sinne eines akteurszentrierten Interaktionismus werden die Rückkopplungen zwischen Akteuren und Strukturen analysiert. Den Rahmen bildet dabei ein Modell von Wolfgang Merkel, das die drei Phasen Ende der Autokratie, Institutionalisierung und Konsolidierung der Demokratie unterscheidet. Im Mittelpunkt steht die Frage nach der Verbindung respektive Autonomie von Politik und Medien im Verlauf der Transformation. Quellengrundlage waren umfangreiche Aktenbestände des Bundes, der beteiligten Rundfunkorganisationen sowie der Länder Berlin und Brandenburg. Hinzu kommen zeitgenössische Presseberichterstattung, acht Experteninterviews mit involvierten Akteuren sowie publizierte Äußerungen Beteiligter. Zu Einschränkungen beim Quellenzugang, die man schon wegen seinerzeit noch bestehender Sperrfristen vermutet, erfährt man leider nichts.

Die Studie ist chronologisch gegliedert. Nach den einleitenden Teilen werden zunächst der Zusammenbruch der DDR sowie das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem der alten Bundesrepublik und der zentralistisch organisierte DDR-Rundfunk als ordnungspolitischer Rahmen skizziert. Daran schließt sich der Hauptteil an, der nach dem Modell von Merkel in drei Phasen geteilt ist: erstens den Zeitraum von den Demonstrationen in der DDR im Herbst 1989 bis zu den ersten freien Wahlen im März 1990, zweitens die Monate der Regierung de Maizière bis zur Vereinigung am 3. Oktober 1990 und schließlich die Zeit bis zur endgültigen Einstellung des ehemaligen DDR-Rundfunks zum Jahresende 1991. Es folgen ein knappes Fazit und ein umfangreiches Literatur- und Quellenverzeichnis. Der enge Gegenstandsbereich und der relativ kurze behandelte Zeitraum führen zusammen mit dem beträchtlichen Umfang zu einer kleinteiligen, sperrig wirkenden Binnengliederung.

Dietl charakterisiert den öffentlich-rechtlichen Rundfunk der Bundesrepublik in den "Rahmenbedingungen" (83) vor allem rechtlich und organisatorisch, wobei sie deutliche Kritik an politischer Einflussnahme von Staat und Parteien über die Gremien übt. Ihr Porträt des DDR-Rundfunks ist totalitarismustheoretisch inspiriert und lässt dementsprechend wenig Raum für Ambivalenzen. Formulierungen wie, der Rundfunk sei "von einer weitverzweigten, konspirativ arbeitenden Parteiorganisation unterwandert" gewesen, die ihre Mitglieder "eingeschleust" habe (110), und er habe "der vollständigen Kontrolle durch die Stasi" (113) unterstanden, führen jedenfalls in die Irre.

Diese Sicht scheint auch ihre Wertungen zur Rolle von Fernsehen und Radio in der ersten Untersuchungsphase des Umsturzes zu beeinflussen. Die Autorin deutet diesen Abschnitt als zähes Ringen zwischen Partei-Establishment und Reformkräften um die Kontrolle über die Medien. Dabei hätten die Journalisten die Rolle von Verzögerern gespielt. Zwar ist die Bedeutung restaurativer Kräfte evident, aber Dietl scheint die aufgestaute Unzufriedenheit innerhalb des Systems zu unterschätzen. Jedenfalls wirkt es wenig plausibel, anderslautenden, inhaltsanalytisch gestützten Befunden einen "romantisierende[n] Ansatz" (139) und Oberflächlichkeit zu unterstellen, wenn sich das eigene Urteil überwiegend auf zeitgenössische Beobachter und Beteiligte stützt.

Unter der Regierung von Hans Modrow bestimmten noch allein Akteure aus der DDR die Geschicke des Rundfunks. Im Folgenden arbeitet Dietl überzeugend heraus, wie sich dies bereits nach den Wahlen zur Volkskammer im März 1990 änderte. Durch das Votum für einen schnellen Beitritt zur Bundesrepublik verschoben sich die Machtverhältnisse grundlegend. Mittelbar bestimmte von nun an die Bundesregierung den Kurs, während die Regierung de Maizière deren Vorgaben lediglich folgte. Letztere bediente sich dabei neu geschaffener Instanzen wie einem Medienministerium, das die eben erst erkämpfte politische Unabhängigkeit zurückdrängte. Während westdeutsche Medienpolitiker in den DDR-Organisationen oft nur eine kommunistische Altlast sahen, fürchteten ARD und ZDF vor allem die Konkurrenz um Frequenzen und Werbeeinnahmen. Die ausgeprägte Machtasymmetrie verhinderte, dass die Abgeordneten der Volkskammer ihr Ziel umsetzen konnten, den Rundfunk als Ganzes zu erhalten.

Berühmt-berüchtigt ist die Tätigkeit des "Rundfunkbeauftragten" Rudolf Mühlfenzl, der nach der Vereinigung im Oktober 1990 die Macht beim Fernsehen in Adlershof und beim Radio in der Nalepastraße übernahm. Die rechtliche Grundlage bildete der Einigungsvertrag, der dem Bund für eine Übergangszeit die Kompetenz zur Verwaltung der nun technokratisch als "Einrichtung" bezeichneten Organisation übertrug. Bekanntlich betrieb der ehemalige Fernseh-Chefredakteur beim Bayerischen Rundfunk mit seinem westdeutschen "Beraterstab" (355) nun deren entschiedene Abwicklung und ging dabei zumindest anfangs wenig zimperlich vor. Unter anderem trieb er den Personalabbau radikal voran und ließ ARD und ZDF auf die Frequenzen des Deutschen Fernsehfunks (DFF) schalten - "ein rechtlicher Piratenakt unter dem Etikett der 'Grundversorgung'", wie Peter Schiwy, Intendant des Norddeutschen Rundfunks (NDR), das genannt hat (376).

In der Öffentlichkeit avancierte der Rundfunkbeauftragte rasch zu einer Hassfigur, dem der stellvertretende DFF-Intendant Jörg Hildebrandt ein "Verhalten nach Art spanischer Eroberer" vorwarf (361). Dietl argumentiert überzeugend, dass dieses Klischee zu kurz greift. Zwar kritisiert auch sie Mühlfenzls enge Bindung an das Kanzleramt und die Interessen der Union, die Art seiner Ernennung und seine anfangs fehlende Sensibilität gegenüber den Mitarbeitern. Aber zugleich verweist sie auf den geringen Handlungsspielraum: Mühlfenzl musste die Auflösung und Entlassung von 14.000 Mitarbeitern unter extremem Zeitdruck exekutieren. Das erwartete nicht nur Bundeskanzler Helmut Kohl von ihm, sondern das erwarteten auch die Vertreter der sich konstituierenden Länder, die im Bereich des Rundfunks tabula rasa wünschten und ihm den unpopulären Job der Totalabwicklung nur zu gerne überließen. Auf der Haben-Seite verbucht die Autorin ferner sein zunehmendes Engagement für Auffanglösungen zugunsten der Mitarbeiter und seinen entschiedenen Einsatz dafür, dass zu Beginn des Jahres 1992 auch wirklich Programme in der Verantwortung der ostdeutschen Länder starten konnten.

Denn die Entstehung neuer Rundfunkanstalten in Ostdeutschland gestaltete sich nicht reibungslos. Nur der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) stand früh als Dreiländeranstalt fest. Hintergrund war die CDU-Mehrheit in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt sowie im Bund, die es ermöglichte, dort fast schon handstreichartig eine Struktur zu schaffen, die den eigenen Einfluss zementierte. Die Prinzipien der Staatsferne und Pluralität seien dabei geradezu konterkariert worden, so Dietl. Das Ergebnis sei dasjenige eines "westdeutschen Elitentransfers aus dem konservativen Spektrum der ARD" (468) gewesen, nahezu unter Ausschluss von Ostdeutschen an den Schaltstellen. Bundeskanzler Kohl hätte dieses Modell gern im Norden wiederholt, wo zeitweilig das Modell eines konservativ dominierten Nord-Ostdeutschen Rundfunks (NOR) der Länder Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern im Raum stand. Doch hier scheiterte es an Widerständen von SPD und FDP in den Länderparlamenten. Während Mecklenburg-Vorpommern am Ende dem NDR-Staatsvertrag beitrat, entstand als einzige ostdeutsche Neugründung der Ostdeutsche Rundfunk Brandenburg (ORB), der erst 2003 mit dem Sender Freies Berlin (SFB) fusionierte. Als "schlanke" Anstalt mit geringem Gebührenaufkommen war er ganz auf Effizienz getrimmt, hatte einen hohen Anteil an ostdeutschen Mitarbeitern und, so die Autorin, war hinreichend staatsfern konstruiert.

Insgesamt bewertet Dietl die Transformation des Rundfunks in ihrem Fazit jedoch sehr kritisch. Kurzfristige machtpolitische Interessen hätten in Verbindung mit der "ausgeprägten Asymmetrie von Macht und Strategiefähigkeit" (546) sowie dem enormen Zeitdruck zu "strukturelle[m] Determinismus" (550) geführt. Inhaltliche Diskussionen und innovative Ansätze seien mangels kritischer Öffentlichkeit und strukturkonservativer Interessen bei ARD und ZDF ausgeblieben. Das Ergebnis sei ein Abbild des bundesdeutschen Systems mit all seinen Dysfunktionalitäten gewesen, insbesondere hinsichtlich seiner mangelnden Staats- und Parteienferne. Kritisch sieht sie darüber hinaus, dass der endogene demokratische Umsturz in der DDR und die exogene Rundfunktransformation kaum etwas miteinander zu tun hatten: Statt der Reformer, die gerade erst die Medienfreiheit erkämpft hatten, bestimmten schon vor dem Ende der DDR wieder Vertreter des westdeutschen Staats die Linien der Medienpolitik, statt Unabhängigkeit folgte die staatliche Abwicklung. Auch das übergeordnete Ziel einer Integration der beiden Landesteile mit ihren unterschiedlichen Prägungen habe kaum Bedeutung für die praktische Politik gehabt.

Sylvia Dietls Studie ist nicht nur flüssig, sondern auch durchgehend analytisch geschrieben, und sie kommt zu pointierten, fast immer gut begründeten Urteilen. Das gilt insbesondere für die von westlichen Akteuren dominierten Phasen der Rundfunktransformation. Wer sich in Zukunft mit den politischen Prozessen und Hintergründen dieses Aspekts der Einigungsgeschichte beschäftigen möchte, wird an diesem Buch nicht vorbeikommen. Dennoch lässt es den Rezensenten nicht ganz zufrieden zurück. Denn der enge, allein auf politische Eliten zielende Ansatz führt dazu, dass es auf übergreifende Fragen kaum Antworten gibt. Insbesondere die Konsequenzen der Rundfunktransformation für den eingangs erwähnten Ost-West-Diskurs und allgemein für die politische Kultur in Ostdeutschland bleiben so leider außen vor.

Rezension über:

Sylvia Dietl: Transformation und Neustrukturierung des DDR-Rundfunks im Prozess der Wiedervereinigung Deutschlands. Akteure, Interessen, Prozesse (= Beiträge zur Politikwissenschaft; Bd. 20), München: Utz Verlag 2022, 660 S., ISBN 978-3-8316-4939-6, EUR 64,00

Rezension von:
Christoph Classen
Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF)
Empfohlene Zitierweise:
Christoph Classen: Rezension von: Sylvia Dietl: Transformation und Neustrukturierung des DDR-Rundfunks im Prozess der Wiedervereinigung Deutschlands. Akteure, Interessen, Prozesse, München: Utz Verlag 2022, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 5 [15.05.2024], URL: https://www.sehepunkte.de/2024/05/37988.html


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