STELLUNGNAHME ZU

Mathias Berek: Rezension von: Christian Rau: Hungern für Bischofferode. Protest und Politik in der ostdeutschen Transformation, Frankfurt/M.: Campus 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 11 [15.11.2024], URL: https://www.sehepunkte.de/2024/11/37921.html

Von Christian Rau

Aufgrund von Verzerrungen und Falschdarstellungen in der Rezension meines Buches "Hungern für Bischofferode" von Mathias Berek sehe ich mich zu dieser Stellungnahme veranlasst.

Das Buch, das im Rahmen eines Forschungsprojekts zur Geschichte der Treuhandanstalt am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin als ungeplantes Nebenprodukt entstand, beschäftigt sich mit der Geschichte des wohl bekanntesten Arbeitskampfes in Ostdeutschland in den frühen 1990er Jahren. Dabei haben drei Leitgedanken meine Analyse strukturiert. Erstens wollte ich den noch immer hartnäckig tradierten Mythen - nämlich dem von Heldenkampf der Kalikumpel und dem vom linksradikal unterwanderten Kampf gegen eine alternativlos-vernünftige Politik der Treuhand - eine differenzierte Perspektive entgegenstellen. Das wollte ich, zweitens, erreichen durch eine in längere zeitliche Kontexte eingebettete Darstellung der politischen Ereignisketten. Drittens habe ich zu zeigen versucht, dass die betrieblichen Kämpfe gerade in der Phase des Institutionenaufbaus in Ostdeutschland wichtige konstitutive Elemente der politischen Kultur in dieser Transformationsregion darstellten. Deshalb habe ich bewusst auch Akteure in den Blick genommen, die bislang kaum Teil der Analyse waren; namentlich vor allem regional- und kommunalpolitische Akteure, deren Handlungslogiken quer zu den genannten Legenden liegen.

Dass der Rezensent in seiner Kritik am Ende sehr stark auf Nebenschauplätze der Studie eingeht, die lediglich in der Einleitung und im Schlussteil eine Rolle spielen, ist bestenfalls ärgerlich, aber keineswegs illegitim oder kritikwürdig - das nur vorab. Der Rezensent aber argumentiert hierbei unredlich, indem er seine Hauptkritik auf vermeintlichen Thesen aufbaut, die ich in meinem Buch gar nicht vertrete. Dabei greift er sich Textfragmente heraus und kontextualisiert diese neu. Dadurch suggeriert er, ich würde die Heldengeschichte der Kumpel durch ein Hervorheben der "dunklen Seiten" des Protests delegitimieren wollen. Diesen Eindruck benennt er auch so. Dem trete ich entschieden entgegen.

Es geht konkret um die Frage langer Linien vom Arbeitskampf der 1990er Jahre zu den rechtsextremen Protesten der Gegenwart. Ich beziehe mich in meiner Entgegnung einzig auf den vorletzten Abschnitt, in dem der Rezensent versucht, mir eine nüchterne Perspektive durch erfundene Thesen abzusprechen. Im Einzelnen:

(1) Der Rezensent bezeichnet es als "[p]roblematisch und unbelegt", wie ich den "Zusammenhang[s] zwischen dem Protest von Bischofferode und dem Erfolg radikal rechter Bewegungen von Pegida bis AfD in Ostdeutschland" darstellen würde. In der Tat lässt sich dieser Zusammenhang nicht belegen, da es keinen realhistorischen Zusammenhang gibt, den ich so auch nicht formuliert habe. In der Einleitung problematisiere ich vielmehr, dass dieser Zusammenhang von Teilen der AfD mitunter zur Wahlmobilisierung genutzt wird. Dabei gehe ich auch auf die Überschneidung verschiedener aktueller Diskursstränge ein, die m.E. eine gewisse Lesart der Proteste hervorrufen oder suggerieren. Am Ende des Buches argumentiere ich aber, dass die Frage, ob das auch in Bischofferode seinerzeit schon lancierte "Übernahme"-Narrativ, das in Teilen Ostdeutschlands bereits vor der Einheit zirkulierte, in rechtsextreme Proteste münden muss, offen bleiben muss. Denn im Kern ist diese Frage letztlich eine genuin erinnerungspolitische und genau diese Dimension habe ich im einleitenden Kapitel adressiert, um die Notwendigkeit einer nüchternen Darstellung zu untermauern. Eine differenzierte Analyse der erinnerungspolitischen Verarbeitung der Treuhand-Proteste steht dagegen noch aus, wäre aber notwendig. Ich leiste sie in meinem Buch nicht.

(2) Absurd ist aber die sich anschließende Behauptung des Rezensenten: Ich würde schreiben, dass die Tatsache, "dass der Bischofferöder Arbeitskampf für viele zum "Signal des Aufbruchs" wurde", "nicht ohne die radikal rechten Gewaltausbrüche der 1990er zu verstehen" sei. Dabei verweist er auf Seite 13 meines Buches. Dort ist tatsächlich vom "Signal des Aufbruchs" und den rechtsradikalen Ausschreitungen die Rede, der Kontext ist aber ein völlig anderer. Ich beschreibe dort das Krisengefühl vieler Zeitgenossinnen und Zeitgenossen der Jahre 1992 bis 1994, die sich in einer Vereinigungskrise wähnten, als deren Symptome die rechtsradikalen Ausschreitungen und die Massenarbeitslosigkeit im Osten (sowie die steigenden Arbeitslosenzahlen auch im Westen) zeitgenössisch beschrieben wurden. Daraus leite ich die These ab, dass Bischofferode gerade deshalb für viele (nicht nur für linke Splittergruppen) zum positiven Aufbruchsignal aus der Krise wurde. Proteste, das ist damals wie heute so, sind immer untrennbar mit ihrem gesellschaftlichen Framing verbunden. Sie sind darauf angewiesen, müssen sich aber auch zu Eigendynamiken verhalten, die den Protest zu delegitimieren drohen. All dies betraf auch die Bischofferöder.

(3) Der Rezensent fährt fort: "Dass die AfD rhetorisch an "ostdeutsche Unterlegenheitsgefühle" anschließt (245), bedeutet ja nicht, dass diese Rhetorik den historischen Fakten entspricht": richtig, aber das behaupte ich auch an keiner Stelle meines Buches! Noch einmal: die Frage der langen Linien ist eine erinnerungspolitische und keine realhistorische.

Weitere Kritikpunkte der Rezension deuten darauf hin, dass der Rezensent von meinem Buch offensichtlich enttäuscht ist. Er hätte sich wohl mehr politische Positionierung von mir erhofft, als ihm das Buch bietet. So hätte ich etwa "analytische Konsequenzen" aus dem damaligen Verhalten der Gewerkschaften ziehen und mich vom "politischen Begriff" der sozialen Marktwirtschaft distanzieren sollen. Aber weder ist das Buch eine Analyse der "sozialen Marktwirtschaft", weshalb eine entsprechende Begriffsarbeit nicht nötig ist, noch eine kultur- oder sozialwissenschaftliche Studie, in der solche Fragen womöglich besser aufgehoben wären. Das Buch ist und bleibt eine politische Geschichte eines ostdeutschen Arbeitskampfes, zu der bereits einige kritische Anmerkungen erschienen sind, von denen ich die meisten nicht nur als berechtigt, sondern auch als anregend empfinde. Anders als bei Berek wurden mir dabei aber keine Thesen angedichtet.


Anmerkung der Redaktion:
Mathias Berek hat auf eine Replik verzichtet.