Rezension über:

Angelika Kellner: Die griechische Archaik. Konstruktion einer Chronologie im Wechselspiel schriftlicher und archäologischer Quellen (= Philippika. Altertumswissenschaftliche Abhandlungen; Bd. 156), Wiesbaden: Harrassowitz 2022, 465 S., 16 s/w-Abb., ISBN 978-3-447-11780-7, EUR 128,00
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Rezension von:
Uwe Walter
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld
Redaktionelle Betreuung:
Mischa Meier
Empfohlene Zitierweise:
Uwe Walter: Rezension von: Angelika Kellner: Die griechische Archaik. Konstruktion einer Chronologie im Wechselspiel schriftlicher und archäologischer Quellen, Wiesbaden: Harrassowitz 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 9 [15.09.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/09/37554.html


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Angelika Kellner: Die griechische Archaik

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Begriff und Konzept der Archaischen Zeit können als gut erforscht gelten. Ihre geschichtsphilosophischen oder -pragmatischen Konnotationen - "Index des 'noch nicht'", "Age of Experiment", "Rise of the Greeks", "Greece in the Making" - regen nicht mehr auf. Neuere Synthesen umschiffen überdies die Frage nach der Abgrenzung der spätmykenischen Zeit und der "Dark Ages", indem sie summarisch vom frühen Griechenland ab etwa 1200 v.Chr. sprechen oder zentrale Basisphänomene und -prozesse von ihren Anfängen bis weit über die alte Epochengrenze 500/480/79 hinaus verfolgen.[1]

In diesem Sinne war es klug von Angelika Kellner, die Geschichte des Begriffs Archaik sehr kurz abzumachen (vgl. 1 und 11f.). Den Hauptgegenstand ihrer von Erich Kistler und Robert Rollinger betreuten, als Forschungsbericht angelegten Innsbrucker Dissertation bezeichnet vielmehr der Untertitel. Kellner zeigt - nicht als erste! - minutiös auf, dass die nach wie vor gängigen und im Sinne einer wissenschaftlichen wie außerwissenschaftlichen Verständigung unverzichtbaren Chronologien und Datierungen hochgradig prekär sind: Sie hängen von Überlieferungen und komplexen Operationen ab, deren Problematik in der Regel jedoch nicht mehr reflektiert wird. Warum sich im Zuge eines wissenschaftlichen Konventionalismus viele 'Daten' durchgesetzt haben, liegt auf der Hand: Sowohl die antike Chronographie wie die Keramikchronologie gelten als wenig fruchtbare Felder der Philologie und Alten Geschichte bzw. der Klassischen Archäologie; einmal gewonnene Rekonstruktionen wurden und werden in Arbeiten zu anderen Fragestellungen sowie Überblicken dankbar zugrunde gelegt, sofern sie sauber erarbeitet und einleuchtend erscheinen. Auch wird eine allgemein anerkannte Chronologie gebraucht, da sie "die Grundlage für eine Kommunikation innerhalb der Altertumswissenschaft und die Erforschung der Archaik bildet" (369).

Kellner konzentriert sich auf den Zeitraum von ca. 800 bis um die Mitte des 6. Jahrhunderts (2); im Sinne ihres interdisziplinären Ansatzes möchte sie u.a. erkunden, "welche Datierungen antiker Autoren nun die absolute Chronologie der materiellen Hinterlassenschaft und vor allem der Keramikchronologie bestimmen" (4). Nach zwei einleitenden, das Problem und die Forschungsgeschichte entfaltenden Abschnitten werden im ersten Hauptstück (Kap. 3: "Die antike Chronographie und die Chronologie der Archaik", 31-100) Entwicklung und Eigenart der attischen Archontenliste sowie der Olympionikenliste erörtert; ein Überblick zur antiken Chronographie und ihrer Arbeitsweise erläutert sodann, wie über Intervallangaben, Generationenrechnungen, akmê-Ansätze sowie Synchronismen pseudo-exakte Datierungen generiert und Personen bzw. Ereignisse über eine größere Zeitspanne verteilt wurden. So scheinen Kylon und Solon bei Herodot und Thukydides (unbestimmt) näher bei Peisistratos zu stehen als in den etablierten Fixierungen (630er Jahre bzw. 594). Die Verfasserin spricht treffend vom "Älterwerden" der Archaik. [2] Auch die vielberufenen ersten Olympischen Spiele 776 galten den Autoren des 5. Jahrhunderts noch nicht als Marker (74).

Kap. 4 (101-156) führt aus, "wie antike Autoren vor den chronographischen Datierungskonventionen des Hellenismus Ereignisse der Archaik zeitlich verorten konnten" (101); dabei erhalten - mündlich wie schriftlich tradierte, stets unfeste - Genealogien besondere Aufmerksamkeit. Bekanntlich hatten Herodot und Thukydides große Probleme, Ereignisse des 6. Jahrhunderts in der griechischen Welt zeitlich zu fixieren. Mit Recht wendet sich Kellner gegen die verzweifelt-optimistische Ansicht, spätere Autoren hätten exaktere Aufzeichnungen aufgetan, die den Autoren des 5. Jahrhunderts noch nicht bekannt waren oder von ihnen ignoriert wurden. Undeutlich bleibt, wie Thukydides zu seinen beiden Reihen von Gründungsdaten der Apoikien auf Sizilien gekommen ist; auch neuere Funde zu möglichen Oikistenkulten helfen nicht weiter.

Eben diesen Gründungsdaten und der mit ihnen verknüpften Datierung der korinthischen Keramik widmet sich Kap. 5 (157-252), das nicht nur wegen seiner Länge den Kern der Studie darstellt. Ausführlich werden zunächst die Intervallangaben bei Thukydides diskutiert, deren Schwierigkeit bekannt ist: Gelon habe Megara Hyblaia 245 Jahre nach der Gründung zerstört, doch bleibt unklar, in welchem seiner Regierungsjahre das geschah; zudem ist die zweite, mit Naxos und Syrakus beginnende Reihe von Intervallen mit der ersten nicht exakt verschränkt. Anschließend durchmustert Kellner die verstreuten Datierungshinweise von Pindar bis Eusebios. Insgesamt, so die wenig überraschende Bilanz, "können die absoluten Datierungen für die Koloniegründungen, wie sie in der modernen Forschung verwendet werden, nur als [...] Annäherungen betrachtet werden" (211). Die von Humfry Payne begründete Datierung der korinthischen Keramik kann hinsichtlich ihrer relativen Stilchronologie als valide gelten, doch die Fixierung in absoluten Daten bleibt problematisch, da Payne hierfür die aus Thukydides abgeleiteten Gründungsdaten von Syrakus, Megara Hyblaia, Gela und Selinunt wählte; auch erscheint nach neueren Erkenntnissen eine "Unterscheidung von Produktions- und Laufzeit eines Keramikstils" geboten zu sein.

Aus dem Osten fällt ebenfalls wenig Licht auf die griechischen Keramikchronologien; das gilt für die Levante mit ihren strittigen hohen und niedrigen Chronologien (253-287) wie für die phönikischen Gründungen im Westen (289-322). Wer sich über den Diskussionsstand zur lydischen Chronologie bis auf Kroisos oder das Gründungsdatum Karthagos orientieren will, findet hier erschöpfend Auskunft. Kap. 8 behandelt die "Fixpunkte der attisch schwarzfigurigen Vasenmalerei" (323-347), v.a. an zwei Problemen, die sich erneut bei der so problematischen Kombination von Textquellen und Artefakten ergeben: der Gründung Massalias und der Etablierung der Panathenäen mit ihren charakteristischen Preisamphoren.

Erstaunlich knapp (349-361) und skeptisch behandelt Kellner die naturwissenschaftlich fundierten Verfahren, mit denen fixe Daten für früheisenzeitliche stratigraphische Befundreihen gewonnen werden sollen (C14; Dendrochronologie). Die Diskussion sei festgefahren (360). Am Ende nur erwähnt wird der Vorstoß von St. Gimatzidis und B. Weniger, auf der Basis ungestörter Schichten in Kastanas und Sindos eine deutlich höhere Chronologie zu konstruieren. [3] Ein Resümee (363-376), eine umfangreiche Bibliographie (379-455) und ein Stellenregister (457-465) beschließen das Buch; der Rezensent vermisst ein kurzes analytisches Sachregister.

Kellners Referate lesen sich über weite Strecken etwas langatmig, zumal Wiederholungen nicht fehlen (144f. und 162f. sind beinahe textidentisch) und umständliche Formulierungen stören. Ihr eigenes Urteil ist angenehm kritisch gegenüber den konventionellen Angaben, die wissenschaftstheoretischen und -pragmatischen Rahmenbedingungen hätten jedoch mehr systematische Aufmerksamkeit verdient. Jedenfalls kann das Buch als umsichtige und stoffreiche Aufbereitung des sperrigen Materials gelten. Welche Konsequenzen aus den weitgehend dekonstruierenden Ergebnissen zu ziehen sind oder gar tatsächlich gezogen werden, wird man sehen. Künftige Detailstudien und Synthesen sollten es nicht achtlos übergehen.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Raimund Schulz / Uwe Walter: Griechische Geschichte ca. 800-322 v.Chr. (Oldenbourg Grundriss der Geschichte, 50.1/2). Berlin / Boston 2022, Bd. 1, 14; 2, 28f.

[2] Dabei wird auch das Bild einer dicht mit Ereignissen besetzten Zeit von ca. 560 bis 480 bei korrespondierender 'Leere' der 150 Jahre davor angesprochen, das Pamela Jane Shaw 2003 entwickelte. Es blieb weitgehend folgenlos, da es nicht in eine Gesamtrekonstruktion umgesetzt wurde; vgl. Rezension: https://www.sehepunkte.de/2005/09/5969.html (zuletzt 27.7.2023).

[3] Er hat es immerhin in eine breitere Öffentlichkeit geschafft; vgl. Klaus-Dieter Linsmeier: Begann die Antike früher? Spektrum der Wissenschaft 2021, H. 4,  78-85; Rolf Hessbrügge: Sind die alten Griechen noch viel älter?, Rotary Magazin Jan. 2022, 58-60.

Uwe Walter