Rezension über:

Eva Marie Lehner: Taufe - Ehe - Tod. Praktiken des Verzeichnens in frühneuzeitlichen Kirchenbüchern (= Historische Wissensforschung; Bd. 22), Göttingen: Wallstein 2023, 375 S., 12 Farb-, 13 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-5380-0, EUR 34,00
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Rezension von:
Francisca Loetz
Historisches Seminar, Universität Zürich
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Francisca Loetz: Rezension von: Eva Marie Lehner: Taufe - Ehe - Tod. Praktiken des Verzeichnens in frühneuzeitlichen Kirchenbüchern, Göttingen: Wallstein 2023, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 9 [15.09.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/09/38080.html


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Eva Marie Lehner: Taufe - Ehe - Tod

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Wer interessiert sich schon für alte Kirchenbücher? Die tabellarischen Eintragungen über Taufen, Eheschließungen und Beerdigungen scheinen vorwiegend etwas für die gern belächelten Familienforscher:innen zu sein, die ihren Stammbaum zu rekonstruieren suchen. Auch Mikrohistoriker:innen widmen sich Kirchenbüchern, wenn sie in aufopferungsvoller Arbeit die Daten zur Population einer Gemeinde erfassen. Aber sonst? Warum sollte sich die Untersuchung so eintönig wirkender, frühneuzeitlicher Kirchenbücher lohnen? Lehner liefert in ihrer Dissertation klare Antworten: Mithilfe von Kirchenbüchern lassen sich über demographische Daten hinaus Ab- und Ausgrenzungsprozesse verfolgen. Kirchenbücher sind zentrale Quellen für eine praxeologisch orientierte Verwaltungs- und Wissensgeschichte, die bislang über die Quellengattung der Kirchenbücher einfach hinweggegangen ist.

Von wenigen Einträgen abgesehen, in denen die Pfarrer als Autoren der Kirchenbücher einige Hinweise auf ihren Werdegang und ihre bürokratische Tätigkeit geben oder in denen sie biographische Angaben zur Herkunft von getauften "Türken" und "Türkinnen" liefern, fokussiert Lehner nicht, was die Einträge über die Verzeichneten festhalten, sondern wie sie es festhalten. Die Quellen geben kaum Erzählstoff her, mit denen sich spannende Geschichten erzählen ließen. Sie dokumentieren vielmehr die bürokratische Strukturierung einer Wissensakkumulation. Lehner fragt daher, nach welchen Kriterien die Einträge angeordnet sind und von welchen Verzeichnungspraktiken sie zeugen. Ihre Argumentation folgt dabei dem klassischen Aufbau einer Qualifikationsarbeit des deutschsprachigen Raums. Nach einer präzisen Einführung in die Forschungsdiskussion erläutert sie ihren verwaltungs-, wissensgeschichtlich und praxeologisch begründeten konzeptionellen Zugriff. Im Anschluss an ihre konzisen Erläuterungen begründet Lehner ihre Quellenauswahl. Mit dem (vor-)reformatorischen und katholischen Material aus dem Raum des heutigen Bayern und des heutigen Rheinland-Pfalz deckt sie die konfessionellen Entwicklungen um die Zeit der Reformation und des Trienter Konzils ab. Das Quellencorpus wird systematisch in Hinblick auf die Entstehungsgeschichte der Textgattung, die Einträge zu Taufe, Eheschließung und Todesfälle durchdekliniert. Jedes Kapitel schließt mit den Zwischenergebnissen, die im Fazit miteinander unter Rückgriff auf die einführend vorgestellte verwaltungs-, wissens- und praxeologiegeschichtliche Programmatik thesenartig zusammengefasst werden. Die Argumentation wird mit vielen Verweisen auf die Forschungsliteratur belegt, so dass man die ausgiebigen Fußnoten als erschöpfende Bibliographie auswerten kann. Ein Orts-, Personen- und ausführliches Sachregister ermöglichen eine gezielte, punktuelle Lektüre. All dies ist weder originell noch erzählerisch unterhaltsam, aber, wie auch der unprätentiöse Stil der Arbeit, angenehm klar und nützlich.

Der Gewinn der Arbeit beruht vorwiegend auf den empirischen Ergebnissen, die im Ausblick locker an die konzeptionellen Vorüberlegungen zurückgebunden werden. Eiligen Leser:innen sei das Fazit empfohlen, das diese Ergebnisse prägnant präsentiert: Die "Begegnungssituationen und Interaktionsprozesse zwischen den kirchlichen Verfassern der Einträge und verzeichneten Gemeindemitgliedern" (315) seien für die Praxis der Kirchenbuchführung konstitutiv gewesen. Im Unterschied zu den vorreformatorischen Kirchenbüchern hätten die frühneuzeitlichen Personalstandslisten nicht nur spezifische soziale Gruppen, sondern die Gesamtheit der Gemeindemitglieder erfasst. Statt allein auf Zeugen angewiesen zu sein, die Eheschließungen, Geburten und Todesfälle bestätigten, hätten mit den Kirchenbüchern nunmehr schriftliche Nachweise zur Bezeugung des Personenstands zur Verfügung gestanden. Die autobiographischen Notizen der Autoren hätten zu einer Standardisierung des Lebenslaufs in chronologischer Reihenfolge geführt. Mit ihren Differenzkategorien hätten Kirchenbücher Religionen von Konfessionen, "Unzucht" bzw. Konsensehe von ordentlicher Ehe, ehrliche von unehrlicher Geburt, Ungetaufte von Getauften, "selig" Verstorbene von Hingerichteten voneinander getrennt. Kirchenbücher hätten dazu beigetragen, die (durch Kriege, Seuchen und Entbehrungen teilweise massenhaft) Gestorbenen "in Hinblick auf das jenseitige Leben zu positionieren" (315) und somit den Umgang mit der Vergänglichkeit zu erleichtern. Verwaltungsgeschichtlich sei festzuhalten, dass die Datenerfassung der Bevölkerung sich bereits im 16. und nicht erst im 18. Jahrhundert entwickelt habe. Die chronologische und alphabetische Anordnung der bürokratischen Einträge habe bis dato nicht systematisch erfassbares Wissen über die Gemeinden generiert. Die Praxis der Kirchenbucheinträge sei mit Stefan Brakensiek, dem Betreuer der Arbeit, als "akzeptanzorientierte Herrschaft" zu verstehen.

Manche Wiederholungen stören den Fluss der sonst gut durchstrukturierten Argumentation. So wird man zum Beispiel an mehreren Stellen lesen können, dass die Einträge dazu dienten, die Kindstaufen zu registrieren, um damit indirekt die Täufer zu markieren, welche die Erwachsenentaufe vertraten. Genauso taucht das Argument der Stigmatisierung des vorehelichen Geschlechtsverkehrs durch die "Bürokratisierung der Ehe" verschiedentlich auf. In manchen Schlussfolgerungen erscheint der Weg vom empirischen Ergebnis zum Konzept beispielsweise der "Aushandlung", "Positionierung" oder "Konstruktion" unbefriedigend. Ist die Tatsache, dass etwa einige Personen proaktiv den Tod des ersten Ehemanns in das Kirchenbuch eintragen ließen, um erneut heiraten zu können, ein Beleg für interaktives Aushandeln? Führt das Argument weiter, dass aus dem Osmanischen Reich stammende Personen auch noch nach der Taufe als "Türken" und "Türkinnen" bezeichnet werden konnten und damit weiterhin als ursprünglich Andersgläubige "konstruiert" wurden? Ist es überzeugend, von den Kirchenbüchern auf deren Auswirkungen für die Verzeichneten zu schließen? Inwiefern bedeutete beispielsweise für die Hinterbliebenen die Registrierung von Todesfällen eine tröstende "Positionierung" der Verstorbenen in Hinblick auf das Jenseits? Das Quellenmaterial verweist Lehner an ihre Grenzen. Kennzeichnend ist, dass Lehner die zitierten längeren Quellenbeispiele zumeist - wie ich angesichts der sprachlichen Verständlichkeit der Zitate meine - unnötig paraphrasiert und dabei öfters bei der inhaltlichen Wiedergabe des Zitats stehen bleibt. In den Kirchenbüchern ist zu wenig über die Interaktionen und Begegnungen zwischen Gemeindemitgliedern, Pfarrern und Auftraggebern festgehalten.

Was also bleibt? Sicherlich nicht das Desinteresse an Kirchenbüchern. Das Verdienst von Lehners Arbeit ist vielmehr, auf die unterschätzte Quellengattung der Kirchenbücher als zentrale Dokumente verwaltungstechnischer Akkumulation von Wissensbeständen aufmerksam zu machen und dabei das Problem der Historizität (stigmatisierender) Differenzkategorien hervorzuheben. In einer Zeit zunehmender Datenspeicherung ist dies ein lohnenswerter Beitrag aus historischer Sicht.

Francisca Loetz