Rezension über:

Christoph Flucke / Martin Schröter (Hgg.): Die litterae annuae der Gesellschaft Jesu von Lübeck (1644 bis 1772) und der liber baptizatorum, copulatorum ac defunctorum (1683-1799) (= Quellen und Darstellungen zur Kulturgeschichte Norddeutschlands; 1), Münster: Aschendorff 2022, 1146 S., ISBN 978-3-402-27224-4, EUR 59,00
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Rezension von:
Christoph Nebgen
Fachbereich Katholische Theologie, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Christoph Nebgen: Rezension von: Christoph Flucke / Martin Schröter (Hgg.): Die litterae annuae der Gesellschaft Jesu von Lübeck (1644 bis 1772) und der liber baptizatorum, copulatorum ac defunctorum (1683-1799), Münster: Aschendorff 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 10 [15.10.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/10/37854.html


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Christoph Flucke / Martin Schröter (Hgg.): Die litterae annuae der Gesellschaft Jesu von Lübeck (1644 bis 1772) und der liber baptizatorum, copulatorum ac defunctorum (1683-1799)

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Die geographische und intellektuelle Mobilität der Gesellschaft Jesu, die sich maßgeblich den Grundlagen ignatianischer Spiritualität verdankt, hat die Erforschung ihrer Geschichte seit vielen Jahren zu einem immer weiter boomenden Feld vor allem für eine illustre Schar internationaler Frühneuzeit-Historiker werden lassen. Dass dabei in der fast unüberschaubaren Flut an Publikationen auch die ein oder andere Redundanz auftritt, darf nicht verwundern.

Umso erfreulicher ist es, wenn es - wie in diesem Fall einem mittlerweile aufs beste eingespieltem Forscher-Duo - gelingt, seit einiger Zeit immer wieder wirklich neues Quellenmaterial auf editorisch und philologisch hohem Niveau aufzubereiten, um es somit der weiteren Erforschung zur Verfügung zu stellen. Neben den Veröffentlichungen der Jahresberichte der Jesuiten von Hamburg/Altona (2015), von Glückstadt (2017), Otterndorf an der Unterelbe sowie Stade (2020) und Friedrichstadt (ebenfalls 2022) bietet der vorliegende Band zu Lübeck eine immense Fundgrube und Quellengrundlage zur Erforschung jesuitischer Pastoral, sowie von festzustellenden Verhaltensmustern und -anpassungen des Ordens und seiner flexibel und kontextuell angepasst arbeitenden Mitglieder im Gebiet katholischer Diaspora im 17. und 18. Jahrhundert. Neben einer Fülle an regionalgeschichtlichen und prosopographischen Informationen mit ihrem ganz eigenen Wert ließen sich anhand des Materials darüber hinaus in einem breiten Spektrum verschiedene kulturgeschichtliche Fragestellungen anwenden.

Besonders bemerkenswert erscheinen aus spezifisch theologischer und liturgiegeschichtlicher Perspektive beispielsweise die zuvor bereits für Friedrichstadt festgestellten liturgischen "Akkomodationen" der Jesuiten hinsichtlich der Einführung von deutschsprachigen Gesängen in Lübeck ab 1713. Neben solchen aus späterer Perspektive modern wirkenden Anpassungen tritt allerdings massiv die jesuitische "Pastoralmacht" mit ihrem konfessionell und damit sozial normierenden Anspruch in Erscheinung. Immer wieder halten sich die Berichterstatter zugute, Lübecker Katholiken vor der "Falle einer lutherischen Ehe" (etwa Bd. 1, 195) bewahrt zu haben. Massive Eingriffe in individuelle Biographien in konfessionell normierender Absicht prägen die Berichte Jahr für Jahr. So erzählen die verantwortlichen Patres mit Stolz, wie sie vor Ort etwa bekannt gewordene Heiratspläne mit vielen intensiven Gesprächen durchkreuzten, bestehende oder sich anbahnende Freundschaften torpedierten und Karrierepläne zunichtemachten, die Katholiken potentiell Konfessionsgrenzen hätten überschreiten lassen müssen. Zugleich erhält man als Leser auch einen intensiven Eindruck von der großen Affinität barock-katholischer Frömmigkeit zu magischem Denken und Hexenglauben. Die Anwesenheit von Gespenstern in bestimmten Gebäuden wird von den Patres immer wieder notiert, des Öfteren tauchen Fälle von Besessenheit auf (etwa Bd. 1, 221), und auch diese dienen dem Autoritätsnachweis in konfessioneller Abgrenzung: 1680 heißt es beispielsweise, dass die "Teufelsbeschwörer, die an Sankt Jacobi in der Predigt schwatzen" (pro concione deblaterant) (Bd. 1, 245), gemeint sind lutherische Geistliche mit ihren Maßnahmen gegen Teufel und Dämonen, rein gar nichts ausrichten konnten, während jesuitische Maßnahmen natürlich zielführend wirkten.

Nützliches Kartenmaterial, ein umfangreicher Index der Personennamen (Bd. 2, 896-1082!), jeweils ein weiterer Index der Orts- und Gewässernamen und für "Sachen" runden dieses weitere Glanzstück der seit 2015 jeweils im Aschendorff-Verlag erscheinenden Quelleneditionen ab. Um es nochmals zu betonen: Weit über den rein regionalgeschichtlichen und prosopographischen Kontext hinaus bietet das akribisch und auf hohem Standard edierte Material beste Ausgangsbedingungen zur weiteren Erforschung der Spezifika jesuitischer Pastoral in katholischer Diaspora in der Frühen Neuzeit und allen damit verbundenen Vergleichsmöglichkeiten. Dass die beiden Teilbände nun zugleich auch eine neu aufgelegte Reihe "zur Kulturgeschichte Norddeutschlands" eröffnen, lässt auf weitere derartige Quellenschätze hoffen.

Christoph Nebgen