Rezension über:

Wójcik Bartosz: Vernichtungsalltag. Die deutsche Ordnungspolizei in den annektierten polnischen Gebieten 1939-1945. Fallstudie Łódź/Litzmannstadt (= Schriftenreihe Studien zur Geschichte des Nationalsozialismus; Bd. 5), Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2021, 545 S., ISBN 978-3-339-12608-5, EUR 139,80
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Rezension von:
Hans-Jürgen Bömelburg
Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität, Gießen
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Hans-Jürgen Bömelburg: Rezension von: Wójcik Bartosz: Vernichtungsalltag. Die deutsche Ordnungspolizei in den annektierten polnischen Gebieten 1939-1945. Fallstudie Łódź/Litzmannstadt, Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2021, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 12 [15.12.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/12/38855.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Wójcik Bartosz: Vernichtungsalltag

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Bei dieser Darstellung handelt es sich um die überarbeitete Fassung einer 2010 an der Universität Stettin verteidigten Dissertation. Sie gliedert sich nach einem Einführungskapitel in vier Teile: "Die deutsche Ordnungspolizei und der NS-Staat" beschäftigt sich nach einem Kapitel zur deutschen Ordnungspolizei mit der NS-Ideologie im Reichsgau Wartheland; "Handlungsbedingungen der deutschen Ordnungspolizei" behandelt die Aufgabenbereiche der Ordnungspolizei in Łódź/Litzmannstadt sowie die Indoktrination der Polizisten durch "Weltanschauliche Schulungen" und ein gelenktes Unterhaltungs- und Freizeitangebot. Das Kapitel "Vernichtungsalltag. Die deutsche Ordnungspolizei in Łódż" schildert die Einsätze der Ordnungspolizei in der Stadt, deren Rolle bei Razzien und bei der Einrichtung und Aufrechterhaltung des Gettos sowie die Aufgaben der Ordnungspolizisten in den zahlreichen Lodzer Lagern, Gefängnissen und bei der Umsetzung der Deportationen. Am Ende steht das Kapitel "Ordnungspolizisten im Vernichtungsalltag", in dem auf der Basis einzelner Biografien das individuelle Verhalten und das Ordnungsdispositiv der Polizei nachgezeichnet werden.

Grundsätzlich ist die Studie die erste wissenschaftliche Arbeit zur Lodzer Ordnungspolizei, einer der deutschlandweit größten städtischen Ordnungspolizeieinheiten im Zweiten Weltkrieg (circa 2000-2500 Personen). Dies ist durchaus verdienstvoll, denn die Studie bemüht sich erstmals, die umfangreichen Archivmaterialien zu dem Thema - die Bestände des Instituts für Nationales Gedenken (IPN) in Warschau, Lodz und Posen, die Bestände der Staatsarchive Lodz und Posen, die Berlin Document Center-Bestände im Bundesarchiv Berlin und die Bestände des Archivs des Jüdischen Historischen Instituts Warschau - auszuwerten.

Jedoch fehlt eine Einordnung in die Geschichte von Lodz im Zweiten Weltkrieg: So wird die Bedeutung der Wende zum radikalen Nationalsozialismus im November 1939 (Eingliederung in den Reichsgau Wartheland; Installierung des Regierungspräsidenten Friedrich Uebelhoer in Lodz) übersehen. Das Bild der Polizei gründet nur auf der Basis des publizistischen Materials für den Zeitraum Oktober 1939 bis Mai 1940; eine Berücksichtigung der folgenden Jahre hätte gezeigt, dass die rassistischen, antisemitischen und antipolnischen Inhalte abnehmen. Die radikale Religionspolitik im Wartheland wird in ihren Unterschieden zu den anderen Reichsgauen nicht erkannt (198).

Eine Ursache für diese fehlenden Einordnungen liegt in der im Text nicht oder nur oberflächlich erkennbaren Rezeption der neueren Literatur; zahlreiche wichtige Publikationen der letzten 15 Jahre werden nicht (so Adam Sitarek für das Getto, die Arbeiten von Markus Leniger und Andreas Strippel zur Umsiedlungspolitik, die Edition Bömelburg/Klatt) oder nur deklarativ im Literaturverzeichnis (Andrea Löw, die deutsche und polnische Ausgabe der Gettochronik) berücksichtigt. Wichtige Quellen werden oft nur indirekt zitiert - so etwa das Tagebuch Oskar Rosenfelds (ediert 1994) nach dem Ausstellungsband Unser einziger Weg ist Arbeit (293), was die genaue zeitliche Verortung erschwert. De facto berücksichtigt die Arbeit nur Literatur bis zu den Erscheinungsjahren 2008/09.

Auch sind manche Wertungen des Autors fragwürdig oder diskutabel, so etwa die Behauptung, im "Selbstschutz" und in der Ordnungspolizei hätten sich "viele ausgezeichnete deutsche Lodzer Bürger aus der Vorkriegszeit" befunden (251) - tatsächlich handelte es sich bei den Ordnungspolizisten um das von der Deklassierung bedrohte Kleinbürgertum und Ladenbesitzer. Auch ist die Behauptung, die "einheimischen 'Volksdeutschen' nahmen also bewusst und entschlossen an der Vernichtung teil" (469) in dieser Härte durch die Argumentation nicht abgesichert.

Zahlreiche Detailfehler machen für die Einschätzung der Arbeit nachdenklich: Es gab in der Ordnungspolizei reichsweit nicht "2.800.000 Beamte" (12, 57) - wahrscheinlich meint der Autor 280 000 Personen; man sollte nicht vom "volksdeutschen Selbstschutz" sprechen (19), die offizielle Bezeichnung war "Selbstschutz", an der Spitze standen durchweg Reichsdeutsche; nicht "Berkellmann" (59), richtig Berkelmann; nicht "Brunon Flis" (68, 301), sondern Bruno Flis; manchmal führen Literaturangaben ins Nichts (109, FN 346 "Gajzler/Luciak/Orłowska"); nicht "Bayer-Fabrik" (254), sondern die Baier-Fabrik in Ruda Pabianicka; falsch ist die Behauptung, "während der Besatzungszeit wurden in Lodz keine öffentlichen Exekutionen durchgeführt" (255), tatsächlich wurden in Wiskitno am 11. Mai 1941 14 Polen und in Zgierz am 20. März 1942 100 Polen öffentlich hingerichtet; mit der Ansiedlung deutscher Bevölkerung wurde nicht im Herbst 1940 (286), sondern bereits im Herbst 1939 begonnen. Unverständlich ist der Satz "Von den circa 235.000 Lodzer Juden wurden circa 71.000 in den ersten Kriegsmonaten von den Deutschen in der UdSSR und im 'Generalgouvernement' infolge der vom Okkupanten organisierten "Aussiedlungen" ermordet" (302). Die Aussagen von Leon Reliszko (319) aus dem Jahre 1970 - das Verbreiten von Flugblättern der Polnischen Arbeiterpartei (PPR) im Getto, dort versteckte Revolver - sind nur durch ihn selbst überliefert und wenig glaubwürdig; die Tagebucheintragungen von Oskar Rosenfeld betreffen nicht die Lager der "Umwandererzentrale", sondern die Deportation der Juden nach Kulmhof (348 folgend) und sind damit für die Argumentation des Autors grob irreführend.

Weiterhin stören manchmal falsche Begriffe wie "Medienmaterialien" (95) oder "Trabantenstadt Ruda Pabianicka" (255). Wendungen wie die "polnischsprachige faschistische Zeitung Gazeta Łódzka" (95) führen in die Irre; man sollte nicht von "Łódż-Gemeinde" (288), sondern von " Lodz-Land" sprechen.

Schließlich lässt auch die formale Gestaltung der Arbeit erheblich zu wünschen übrig: Es fehlt ein für dieses Thema unabdingbares Orts- und ein Personenregister, die Straßennamen werden im Text nach keinem erkennbaren Prinzip mal in der NS-deutschen, mal in der polnischen Fassung von vor 1939 oder nach 1945 verwandt. Das hat Konsequenzen: So ist das Gestapo-Gefängnis als "Gefängnis in der ul. Sterlinga", nicht als "Polizeigefängnis Robert Kochstraße" (so 354 und öfter im Text) international bekannt; das "Arbeitserziehungslager Am Bach" (357) hingegen als Lager Sikawa. Auch die im Text verwendeten Ortsnamen folgen keiner nachvollziehbaren Logik: Konsequent wird die polnische Namensfassung "Łódż" verwandt, andererseits spricht der Autor mehrfach (101, 232) von "Wirkheim" (1942-1944 NS-Deutsch für Aleksandrów Łódzki). Diese erheblichen formalen Mängel, insbesondere die fehlenden Register, erschweren die wissenschaftliche Nutzung der Arbeit nachhaltig, Leser müssen mit dem gesamten mehrsprachigen Namensgut in mehreren polnischen und deutschen Varianten vertraut sein.

So ist die erste Studie zur Ordnungspolizei Łódź leider über weite Strecken wissenschaftlich fragwürdig - schade, dass so ein wichtiges Thema nicht wirklich zuverlässig ausgeschöpft und sorgfältiger herausgegeben wurde!

Hans-Jürgen Bömelburg