Rezension über:

Christopher Clark: Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, Klaus-Dieter Schmidt und Andreas Wirthensohn, München: DVA 2023, 1164 S., 57 s/w-Abb., ISBN 978-3-421-04829-5, EUR 48,00
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Rezension von:
Wolfram Siemann
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Wolfram Siemann: Rezension von: Christopher Clark: Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, Klaus-Dieter Schmidt und Andreas Wirthensohn, München: DVA 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 1 [15.01.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/01/38196.html


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Christopher Clark: Frühling der Revolution

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"Europäer haben, wie alle Menschen, das Bedürfnis, sich mitzuteilen, und dieses Bedürfnis hat sich in keiner Revolution so stark wie 1848 geäußert." (25) Einen Satz wie diesen, in welchem die Europäer als handelndes Kollektivsubjekt aufscheinen, wird man in der vorhandenen Geschichtsschreibung zu 1848/49 schwerlich auffinden. Dazu bedarf es eines "Sehepunktes" von außen. Ein Australier mit europäischen Wurzeln, dessen irische Vorfahren sich in den späten 1840er Jahren vor dem drohenden Hungertod auf die rettende Insel im Südpazifik flüchteten, schreibt eine neuartige Geschichte zu 1848/49. Denn als Rückkehrer in das Zentrum des ehemaligen Britischen Empires verfügt Christopher Clark gerade über jene Perspektive, die ihn befähigt, dieses epochale Ereignis als "einen europäischen Aufstand mit einer globalen Dimension" (9) zu beschreiben. Er konstatiert, dass die von den Zeitgenossen als europäische Aufstände wahrgenommenen Ereignisse durch die späteren Traditionsbildner und Geschichtsschreiber "im Rückblick [...] nationalisiert" (10) worden seien. Ich möchte diese Rückgewinnung der ursprünglichen Wahrnehmung - diesen Turnaround - als Rehistorisierung bezeichnen, welche die nationalen Narrative hinter sich lässt und zu einem komplexen System von Wechselwirkungen, Interdependenzen und der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeiten vordringt. Und dieses vermag er auf beeindruckende Weise zu vermitteln, obwohl die Narratio ihn zu einem linearen Voranschreiten nötigt.

Da diese Besprechung Teil eines Rezension-Forums ist, erspare ich mir die anderwärts bereits mitgeteilten Informationen über Aufbau und Inhalt des Werks und konzentriere mich auf diejenigen Erkenntnisse, worin ich einen Fortschritt, eine Erweiterung oder eine Kritik des bisher Bekannten bzw. auch eine Bestätigung des bisher Umstrittenen entdecke.

Durch Clarks ganzheitlichen Ansatz erübrigt sich von vornherein die immer wieder auftauchende Diskussion, ob es sich überhaupt und im Ganzen um eine Revolution gehandelt habe und ob sie gescheitert sei.

Diese Darstellung der Revolution ist nicht nur wegen ihrer neuen Perspektive gerechtfertigt, sondern auch, weil sie scheinbar Bekanntes (ökonomische Krisen, Pauperismus, Naturkatastrophen) neu aus den Quellen beschreibt, seien diese gedruckt, aber vergessen, oder ungedruckt in Archiven schlummernd. Beispielhaft sind die zeitgenössischen umfangreichen Werke statistischer Erfassung besonders aus französischer Provenienz. Dabei widersteht Clark der Versuchung, in einen evolutionären Erklärungsdeterminismus zu verfallen, demzufolge die Revolution lediglich eine Kumulation vorausgegangener Krisen war: "Soziale Unzufriedenheit 'verursacht' keine Revolutionen". (27) Er interpretiert die vielfältigen vorrevolutionären Unruhen nicht einlinig "als ein Crescendo der Instabilität" (125), wohl aber als wirkungsvollen Faktor in der kontinuierlichen Delegitimierung der alten Autoritäten.

Immer wieder macht Clark deutlich, wie sehr die historischen Fronten quer lagen zu den traditionellen Kategorien von "Rückständigkeit", "Fortschritt", "Klassenkampf", "nationaler Befreiung" etc. Beispielhaft zeigt sich das am Lyoner Weberaufstand, welchen die republikanischen Sozialrevolutionäre im Biotop sozialistischer Ideen als spontanen proletarischen Tumult instrumentalisieren wollten, bei dem es sich aber tatsächlich um einen wohl vorbereiteten Protest von in Vereinen organisierten Kleinunternehmern, also den Besitzern von Produktionsmitteln, handelte. Gleiches gilt für den paradigmatisch und intensiv behandelten galizischen Bauernkrieg von 1846, in welchem sich alle Probleme der "europäischen Agrargesellschaft" (107) konzentrierten. Die Aufständischen "handelten nicht als Mitglieder einer Klasse, [...] sondern als Repräsentanten lokaler Gemeinschaften, denen man das Recht auf Gerechtigkeit verweigert hatte." (126) Sie versagten sich einem polnischen Patriotismus, mit dem sie die Knechtschaft ihrer feudalen polnischen Grundbesitzer verbanden, denn sie sahen als Ruthenen ihr Recht besser unter dem Schirm des habsburgischen Kaisers und der österreichischen Behörden gesichert.

Als wichtigste Erkenntnis aus dem sozioökonomischen Vorlauf der Revolution erscheint mir die These, dass "Massenarmut und Hungerkrisen" (Wilhelm Abel) nicht alternativlos waren: "[D]ie europäische Versorgungskrise war ausgesprochen politisch." (73) Das heißt, sie war menschengemacht, sie stand für ein Versagen des politischen Systems und hätte sich vermeiden lassen. Der Fall der spanischen Stadt Jerez de la Frontera 1846 beweist, dass sich durch massives Eingreifen der Behörden, welche den kommerziellen Interessen des Agrarhandels entgegentraten, eine Ernährungskrise verhindern ließ. Gegenteilige Beispiele lieferten die preußischen Behörden bzw. die englische Regierung, welche interventionistische Maßnahmen zu Gunsten der Notleidenden vermieden oder bereits ergriffene Maßnahmen geradezu unterdrückten und dem "Laisser-faire" des liberalen Marktes und seiner Unternehmer freie Bahn ließen.

Traditionell gehört zur Vorgeschichte von 1848 die Entstehung politischer Programme und Richtungen. Clark betont demgegenüber "die fließende, nichtlineare und verschwommene Eigenart des Geisteslebens in den 1830er und 1840er Jahren" (135), das sich in losen Netzwerken und Gruppierungen, in einem Meer aus Texten und Persönlichkeiten artikuliert habe und in dem sich politische Argumente, Sprachliches, Religiöses und Nationales unabhängig von der politischen Orientierung mischen konnten. Dies vorausgesetzt, kann Clark, bevor er politische Differenzierungen vornimmt, das Problem der Gender-Frage vorausschicken, und man wird keine Revolutionsgeschichte finden, in welcher die vormärzliche Diskussion zur politischen und gesellschaftlichen Stellung der Frauen aus allen Gegenden Europas so quellennah, intensiv und reichhaltig dargestellt wird. Er betont, dass sich von allen Strukturen der Ungleichheit "die geschlechtsbedingte Ungleichheit am hartnäckigsten gegen jede Veränderung" wehrte (154), obwohl, wie er zeigt, der Chor der Fürsprecherinnen einer Emanzipation erheblich größer war als bisher wahrgenommen.

In die gleiche Kategorie gehört das Problem der Sklaverei; erst die globalgeschichtliche Perspektive des Autors macht sichtbar, wie die europäischen Staaten und führende politische Köpfe in Praxis und Diskursen mit Sklaverei umgingen und dieses Thema durchaus zur Vorgeschichte von 1848 gehörte.

Eine besondere Stellung nehmen die Ausführungen über Nationalismus, Nationales und patriotische Gefühle ein, deren Entfaltung im Laboratorium des Vormärz Clark blendend beschreibt. Seine "Europäisierung" der Revolution steht ihrer geschichtspädagogischen Instrumentalisierung als Durchgangsstation auf Europas "langem Weg nach Westen" (Heinrich August Winkler) entgegen, weil für ihn konsequent auch Mittel-, Ost- und Südeuropa ins Blickfeld geraten. Ihm gelingt weitgehend der Balanceakt zwischen der "interpatriotischen Solidarität" (205), artikuliert als Völkerfrühling, Philhellenismus und Polenfreundschaft einerseits, und der potentiellen Sprengkraft des ethnischen Nationalismus im Kampf um einen eigenen Staat, wenn ich auch die krisenschaffende Wirkung im Falle der Magyarisierung - den Zwang, Ungarisch zu sprechen - für die slawischen, rumänischen und deutschen Bevölkerungsteile in Ungarn vor 1848 kritischer bewerten würde.

Auf dem Weg zur Revolution beschreibt er die Verdichtung der Dissidentennetzwerke, die lose verbundenen transterritorialen Zusammenschlüsse. Die zwölf Seiten zur Sozialisierung Robert Blums (305-316) seien als Muster der darstellerischen Fähigkeiten des Verfassers hervorgehoben, wo er das persönliche Charisma eines Mannes aus dem Volke auf dem Weg zum Demokraten und Revolutionär begreiflich macht. Für Frankreich akzentuiert er die Mobilisierung der öffentlichen Stimmungen im Medium der Bankette, während die Schweiz als Motor der vorrevolutionären politischen Polarisierung, artikuliert durch die Verfassungsdiskussion und den Bürgerkrieg, hervorgehoben wird, aber auch eindringlich Ungarn, wo detaillierte Schilderungen der inneren Mobilisierung das Bild der Habsburgermonarchie differenzieren. Allerdings wären die Defizite der habsburgischen Innenpolitik 1841 Kolowrat und nicht Metternich zuzuschreiben (328), den die Staatskonferenz innenpolitisch 1839 kaltgestellt hatte, wie Clark selbst an anderer Stelle beschreibt (423).

Einen Angelpunkt für die Bewertung der postnapoleonischen Ordnung stellt die Rolle und Macht des Staates bzw. der Staaten im Verhältnis zur in Bewegung geratenen Gesellschaft dar. Es ist auffällig, dass der Verfasser den traditionellen Klischees ("Restauration", "Metternichsches System", "Friedhofsruhe") keine Bedeutung schenkt und zu einer originellen Neujustierung gelangt. Es habe kein "Metternichsches System" (423) gegeben, wohl aber nach 1815 eine "europäische Sicherheitskultur" (348), - besser wohl: 'Sicherheitspolitik' - deren Ziel es war, Netzwerke im Untergrund zu ermitteln und zu zerschlagen. Clark konstatiert im Grunde ein Versagen der Staaten vor 1848, die versäumt hatten, sich den realen Herausforderungen zuzuwenden: er diagnostiziert ein Zuwenig an Staatlichkeit und Intervention, freilich nicht in polizeilicher, sicherheitspolitischer Hinsicht, sondern auf dem Feld, "die bestehende soziale und politische Ordnung durch weitreichende soziale, politische und ökonomische Reformen gegen Unruhen zu impfen". (348) Die Revolution war mithin nicht das Werk zielstrebiger Revolutionäre, sondern das Resultat eines "plötzlichen Zusammenbruchs der Autorität" (468), der auch das 1815 vertraglich installierte internationale Sicherheitssystem (399) delegitimierte.

Wenn man sich vor Augen hält, dass Revolutionsgeschichte als eine literarische Gattung linear erzählt werden muss, weiß man, dass ein Autor oder eine Autorin aus dem Meer des Erzählbaren auswählen müssen. So selbstverständlich das klingen mag: spannend ist, ob es plausibel ist und gelingt. Clark versteht es meisterhaft, aus dem Besonderen das Allgemeine herzuleiten, etwa, wenn er einen - historisch beglaubigten! - Pflasterstein erzählen lässt, um in einer Geschichte "von unten" die Julirevolution 1830 einzuleiten (257), oder, wenn er am Fall Neapel-Siziliens 1848 exemplarisch die ausbrechende Revolutionsdynamik, die sozialen Aufstände der Entrechteten, die Schaukelpolitik der Liberalen, die Straßenkämpfe - insgesamt die Erosion der Macht minutiös rekonstruiert. Dabei gelingt es ihm, von der Peripherie der europäischen Revolution her kommunikative Verflechtungen und - durch das gleichzeitige Eingreifen Großbritanniens von der See her - geopolitische Dimensionen sichtbar zu machen. Das Beeindruckende ist dabei, dass er dann den Blick vergleichend in die Marktplätze, Klubs, Kaffeehäuser ganz Europas erweitert. Dabei stellt er überdies die bisher viel zu wenig verfolgte Frage nach Zonen der Revolutionsvermeidungen: mit dem Resultat, wie ausschlaggebend die konstruktive Rolle eines Monarchen sein konnte, der die Revolution durch Reformen vorbeugend "absorbierte", wie in den Niederlanden (Willem II.), in Belgien (Leopold I.) oder in Sardinien-Piemont (Karl Albert) und Großbritannien. Durch seinen globalhistorischen Ansatz relativiert Clark indessen den "Mythos", es habe kein britisches 1848 gegeben, weil es die Spannungen mit teilweise unerhörter Brutalität an die Peripherie des Empires verlagert habe.

Wichtig im Revolutionsverlauf war der Übergang von Aufruhr und Konflikt zu einer Quasistabilisierung durch Regierungsbildungen und Schaffung einer neuen Autorität. Auch hier folgt der Autor nicht der traditionellen Perspektive, die vorwiegend nach Paris, Wien und Berlin schaut, bestenfalls noch nach München und Stuttgart, sondern er lenkt das Augenmerk auf die "politische Biodiversität der Städte und Staaten" (521), und das von der Peripherie des vielgestaltigen Italiens ausgehend über Rom, Mailand, Venedig, Neapel, Palermo bis hin in das Fürstentum Walachei, nach Böhmen, Kroatien und Ungarn. Der allseits zu beobachtende Prozess der Verfassungsgebung offenbart die in dieser Schärfe erst durch den transkontinentalen Vergleich sichtbare Ambivalenz der Revolution, weil die Parlamente gemäß ihrer liberal-konservativen Mehrheiten die Verfassungen als Rückkehr zu geordneten politischen Verhältnissen behandelten und "die Revolution schließen" wollten, wie man in Frankfurt sagte. Clark bewertet die meist kurzlebigen Verfassungen als "Lingua franca einer transnationalen Bewegung" (547), d.h. als Sieg des Liberalismus, und verbindet damit die plausible These, die Revolution habe "unerwarteterweise die Bedingungen ihrer eigenen Negation" hervorgebracht (537).

In die Mitte seines Buches platziert Clark als sechstes ein Kapitel, wie es zu 1848/49 in dieser Weise noch nie geschrieben wurde und erst durch seine globalisierende Vogelperspektive möglich wurde; es behandelt '"die vier Emanzipationen" (635): die der Sklaven, der Frauen, der Juden und der Roma. Die französische Nationalversammlung versuchte sich an der Befreiung der Sklaven in den französischen Kolonien (Guadalupe, Martinique, Réunion), wobei Clark nicht nur die Diskurse in Paris, sondern auch die Aktionen in der französischen Karibik vor Ort erörtert. Er widmet der Publizistik und dem öffentlichen Hervortreten von Frauen auch hier eindrucksvoll vergleichend intensive Aufmerksamkeit, wobei man unter den vielen Aktivitäten der Prominenten auch diejenige der einflussreichen Louise Otto-Peters hinzufügen möchte. Zur Emanzipation der Juden, deren "Kampf um die Freiheit" noch jüngst Julius H. Schoeps intensiv gewürdigt hat [1], verschweigt Clark nicht die dunkle Seite der Pogrome aus dem Frühjahr 1848. Dass es in Gestalt der Roma in den Donaufürstentümern auch in Europa neben der historischen Leibeigenschaft eine fortbestehende echte Sklaverei gegeben hatte, erfährt man hier erstmals in der Ausstrahlung der Revolution. Insgesamt erteilt der Verfasser der beliebten Meistererzählung, wonach die Revolution gleichsam teleologisch als Durchgangsstation zu mehr Emanzipation gewirkt habe, eine entschiedene Absage, indem er auf die tiefe Kluft zwischen der Verkündigung von Maßnahmen und der Verwirklichung bzw. auf die nachfolgende Rücknahme von Errungenschaften pocht. Kritisch resümiert Clark: Selbst die Avantgarde der Literaten und Künstler, welche sich in ihren Werken emanzipatorisch der Sklaverei und den Juden widmeten, verharrten in der Sphäre des Fiktionalen und "erlaubten es der europäischen Kulturelite, sich mit der Emanzipation zu beschäftigen, ohne sie wirklich zuzulassen." (636)

Das Kapitel über "Entropie" ist das rätselhafteste im ganzen Buch, das hier an die Grenzen des Narrativen stößt. Wie lassen sich Ungleichzeitigkeiten, unterschiedliche Geschwindigkeiten, zeitlich parallele revolutionäre Impulse und deren Blockaden durch unterschiedliche lokale Umstände und konkurrierende Formen der Ordnungsbildung in einem linearen Diskurs erzählen? Clark spielt auf die historisch in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenen Reflexionen über Thermodynamik bzw. Energieflüsse in einem geschlossenen System an und findet hier das Sinnbild für die linear nicht beschreibbaren, durch die Revolution erzeugten Vorgänge freigesetzter Energien. Statt von Scheitern zu sprechen, beobachtet er "Symptome einer umfassenderen Zerstreuung der Anstrengungen, des Hitzetods einer Revolution". (771) Unter diesem Thema erscheinen das Aufreiben und die Implosion der französischen Revolutionsregierung im Streit um soziale Frage, Wahlrecht zwischen Klubs, Nationalgarde und den Druck der Straße. Sich wechselseitig blockierende "Eskalationsspiralen" offenbarten sich gleichfalls in Berlin und Wien über die konstituierenden Versammlungen, die zum monarchischen Verfassungsoktroy führten, ebenso in der revolutionären Zuspitzung in Baden, in der 1848 allerorts aufbrechenden "Diskrepanz zwischen den ethnischen Siedlungsmustern auf dem europäischen Kontinent und den Linien auf der politischen Landkarte". (709) Hier greift Clark wieder einmal paradigmatisch eine Region heraus, welche die Mitteleuropaproblematik verkörpert: Kroatien (723-730), und lenkt dann über zum Slawenkongress in Prag, nach Posen und Schleswig: Hier öffnete der Nationalismus doch die "Büchse der Pandora" und arbeitete den geläuterten Regierungen der Reaktion bei der Niederschlagung der Revolution in die Hände. Den Wendepunkt verlegt Clark mit guten Argumenten nach Neapel, aber entscheidend blieben letztlich in Berlin, Dresden, Rastatt, Wien und im Endkampf in Ungarn die dauerhafte Loyalität und Effizienz der fürstlichen Streitkräfte, und zwar nicht zuletzt unter den Bedingungen der Geopolitik, welche Interventionen Frankreichs in Italien sowie vor allem diejenige des übermächtigen Russlands in Ungarn einschlossen.

Es ist gut, dass der Verfasser nicht mit Világos und den Toten von 1848 endet, sondern noch 100 Seiten den Abschnitten "Nach 1848" und "1848 global" widmet. Das führt ihn zu dem Resultat, die postrevolutionäre Ordnung nicht als eine Ära der Reaktion, sondern als einen Sieg der "Realpolitik" und der bürgerlichen "politischen Mitte" zu werten, welche die demokratische Linke und die alte Rechte marginalisierte (970). Ob im neukonstitutionellen Preußen, im Neoabsolutismus eines Alexander Bach, im Neobonapartismus unter Napoleon III. oder in Piemont unter Cavour: Modernisierung, Wirtschaftswachstum, Pressepolitik statt Zensur, staatliche Investitionen, Marktverflechtungen und die Entstehung einer nationalen Verwaltungsintelligenz prägten fortan den Kontinent. Der Rezensent hat für dieses Phänomen einmal die Epochensignatur einer "Gesellschaft im Aufbruch" gewählt. [2] So besehen schien der Patriotismus in der "Büchse der Pandora" sich erst später zu einem "Oppositions- und Sezessions-Nationalismus" (Helmut Rumpler) [3] auf seiner Bahn in die "Urkatastrophe" von 1914/18 radikalisiert zu haben, da nach Clark "die Revolutionen auch eine homogenisierende oder 'europäisierende' Wirkung hatten". (1005)

Clarks monumentale Gesamtschau der Revolution von 1848/49 ist die angemessene Antwort auf "dieses moderne Monsterereignis" (1029), wie er selber sagt, und sie ist darin ohne Beispiel. Sie setzt methodologisch, in der gedanklichen Durchdringung, in der Verbindung des Anschaulichen mit dem Theoretischen, in der Sichtbarmachung neuer Dimensionen sowie bei der Verankerung in Forschung und Quellen - zeitgemäß gesprochen - eine Benchmark, hinter die eine künftige Forschung nicht zurückkann. Noch nie habe ich eine Besprechung mit einer Empfehlung wie der folgenden beschlossen: So merkwürdig es angesichts seines Umfangs klingen mag - dieses Meisterwerk verdient, will man es richtig durchdringen, eine zweite Lektüre, und sie wird nicht weniger spannend sein.


Anmerkungen:

[1] Julius H. Schoeps: Im Kampf um die Freiheit. Preußens Juden im Vormärz und in der Revolution von 1848, Hamburg 2022.

[2] Wolfram Siemann: Gesellschaft im Aufbruch. Deutschland 1849-1871, Frankfurt 1990.

[3] Helmut Rumpler: Österreichische Geschichte, 1804-1914: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie, Wien 1997, bes. 154-214: "Die Büchse der Pandora".

Wolfram Siemann