Constantin Goschler (Hg.): Wissenschaft und Öffentlichkeit in Berlin, 1870-1930, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2000, 233 S., 9 Abb., ISBN 978-3-515-07778-1, EUR 42,99
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Ein Sammelband mit einem regionalen Fokus auf Berlin, wie ihn jetzt Constantin Goschler zusammengestellt hat, kann natürlich nur Ausschnitte dieses äußerst vielschichtigen Themas ausleuchten. Der thematische Fokus des Bandes liegt auf einer institutionenhistorischen und wissenschaftssoziologischen Perspektive, die die sozialen Gruppen der Wissenschaftler und des Publikums in den Blick nimmt, beziehungsweise die Aushandlungsprozesse zwischen beiden. Dahinter tritt die Frage nach den epistemischen Effekten dieser Prozesse fast vollständig zurück, also nach den Konsequenzen solcher Auseinandersetzungen für das Wissen, das in den sich etablierenden Räumen generiert wurde. Damit einher geht eine thematische Einengung auf Fallstudien zu Schnittstellen wie Vereine, Museen, Gerichtsprozesse und Wissenschaftspopularisierung.
An den hier untersuchten Orten wurde vor allem um humanwissenschaftliche Fragen gestritten; gleich je zwei Beiträge untersuchen beispielsweise die Berliner Ethnologie oder das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Spiritismus. Die Naturwissenschaften, die Philologien oder die Geschichtswissenschaft kommen ebenso wenig vor wie staatliche Institutionen, wie die Universität, das Kaiserliche Gesundheitsamt oder die Physikalisch-Technische Reichsanstalt. Und noch eine dritte einschränkende Bemerkung muss bereits an dieser Stelle gemacht werden. Obwohl der Band auf die Hauptstadt des deutschen Reichs fokussiert, bleiben die einschneidenden politischen und allgemeinhistorischen Entwicklungen in diesem Zeitraum (Industrialisierung, Weltkrieg, politische Radikalisierung) weitgehend unbeachtet.
Der Band wird eingefasst von einer ebenso konzisen wie fundierten Einleitung des Herausgebers, der sich jüngst mit einer Arbeit zu Rudolph Virchow an der Humboldt Universität habilitiert hat, und vergleichenden Reflexionen zur Wissenschaftspopularisierung der Wiener Professorin für Wissenschaftsforschung Ulrike Felt. In diesem klugen abschließenden Artikel zeigt sich einmal mehr, welches heuristische Potenzial historische Analysen auch für aktuelle Fragen der Wissenschaftssoziologie bergen. Gerade Studien zur Popularisierung von Wissenschaft haben oft das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit unterkomplex als reines Vermittlungsproblem wissenschaftlicher Sachverhalte bestimmt und damit die vielfältigen Wechselwirkungen, die Prozesse einer Konstruktion von Wissenschaft in der Öffentlichkeit außer Acht gelassen. Die Einleitung verortet den Sammelband mit profunder Sachkenntnis sowohl in der allgemeinhistorischen wie in der wissenschaftssoziologischen und wissenschaftshistorischen Forschungslandschaft.
In der ersten Fallstudie vergleicht Goschler selbst die "Berliner medicinische Gesellschaft", eine Vereinigung wissenschaftlicher Experten mit hohem Professionalisierungsgrad (hier waren nur Ärzte zugelassen), und die "Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte", eine Versammlung von Wissenschaftlern und Laien, Männern und Frauen, auf einem disziplinär noch wenig organisierten Feld. Mit diesen Ausgangskoordinaten sind die Ergebnisse des Vergleich bereits weitgehend vorbestimmt, was allerdings auch daran liegt, dass Goschler an seinem Beispiel vor allem die Verschiedenartigkeit solcher Vereine herausarbeitet und nicht fragt, welche Resonanzen die unterschiedlichen Organisationsformen in den zugehörigen Wissensräumen erzeugten.
An dieser Stelle setzt Andrew Zimmerman ein, der die Einrichtung des Berliner Museums für Völkerkunde als einen Prozess analysiert, in dem sich Wissenschaftspopularisierung und Wissenschaftskonstruktion verschränkten. Begonnen als ein Ort einer möglichst umfassenden ethnologischen Aufklärung der Öffentlichkeit, waren es nicht zuletzt gerade die Erfahrungen mit diesem Totalitätsanspruch im Ausstellungsbetrieb, die dieses Projekt sowohl repräsentationstheoretisch als auch wissenschaftlich unterminierten und damit zur Genese eines wissenschaftlich neuen Programms in der Ethnologie beitrugen.
Arne Hessenbruch untersucht in der dritten Fallstudie die ersten Experimentalvorträge der Berliner Urania kurz nach Entdeckung der Röntgenstrahlen, um zu zeigen, dass bereits hier die Fronten zwischen exakter wissenschaftlicher Aufklärung und spiritistischen Mesalliancen mit den geheimnisvollen Strahlen eindeutig gezogen waren. Sein mutiges Eintreten für ein konventionelles Wissenschaftsverständnis gegen alle modische Wissenschaftsgeschichte legt tatsächlich eine erstaunliche Dominanz des wissenschaftlich definierten Zugriffs auf die neue Entität frei, ignoriert dabei freilich mehr untergründige Wechselwirkungen zwischen Wissenschaftsinszenierung und Aufklärung, für deren Rekonstruktion offenbar gerade die Urania-Veranstaltungen ein ausgezeichneter Ort wären.
Corinna Treitel untersucht einen in Deutschland bisher wenig beachteten Ort der Aushandlung im Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit, das Gericht. Der Prozess um das spiritistische Medium Anna Rothe in den Jahren 1902/03 verdeutlicht, in welchem Maße das Interesse an den so genannten Parawissenschaften die akademische Wissenschaft und deren Definitionsanspruch auf Wissenschaftlichkeit an der Jahrhundertwende in Frage stellte.
Helen Müller schließlich rekonstruiert in einer biografischen Arbeit zu Arthur Buchenau den Einfluss des Marburger Neukantianismus auf das Verlagsprogramm des Georg Reimer Verlages, dessen wissenschaftlicher Berater Buchenau ab 1913 war. Als einzige Untersuchung zu den Jahren der Weimarer Republik kann eine so spezielle Studie allerdings kaum den veränderten Koordinaten im System von Wissenschaft und Öffentlichkeit dieser Zeit gerecht werden.
Die hier versammelten Fallstudien sind selbst das Ergebnis eines Großversuchs zum Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit in Berlin. Sie gehen zurück auf einen Workshop beim Wissenschaftshistorikertag 1996, sind aber nicht einfach dessen Dokumentation, vielmehr haben sich die Autoren mit ihren ausgearbeiteten Aufsätzen noch ein weiteres Mal und diesmal in Klausur getroffen, um ihre Redeströme untereinander zu vernetzen. Auf diese Weise ist ein Band mit Mut zur Lücke, aber von beachtlicher Kohärenz und mit vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Aufsätzen entstanden. Ein etwas bescheidenerer Titel wie etwa "Öffentliche Wissenschaft zwischen Verein und Volksbildung in Berlin" hätte allerdings die Autoren vor manch falschen Erwartungen seitens des Publikums schützen können.
Cornelius Borck