Falk Bretschneider: Die unerträgliche Macht der Wahrheit. Magie und Frühaufklärung in Annaberg (1712-1720) (= magi-e - forum historicum; Bd. 2), Aichach: Schwarten 2001, 131 S., 5 Tab., ISBN 978-3-929303-21-6, EUR 15,00
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Die Reihe "magi-e - forum historicum" hat es sich zum Ziel gesetzt, qualitativ hochwertige Zulassungs- und Magisterarbeiten sowohl in broschierter als auch in digitaler Form zu publizieren. Die notwendige Qualitätssicherung soll auch durch ein gründliches Lektorat und ein professionelles Layout gewährleistet werden. Die Lektüre gestaltet sich bei diesem Band allerdings etwas mühsam, da die gewählte Schrift sehr klein ausfällt. Vereinzelte kleinere Druckfehler sind offenbar durch die Umwandlung von Dateiformaten entstanden.
Falk Bretschneider hat die vorliegende Magisterarbeit 1999 am Historischen Seminar in Leipzig eingereicht. Auf 112 Seiten setzt er sich in insgesamt sieben Großkapiteln mit der "Annaberger Krankheit" auseinander. Dabei klagten in Annaberg seit 1712 mehrere Personen über Anfälle und Erscheinungen, die auf Hexerei zurückgehen sollten. Bretschneiders Forschungsinteresse gilt in erster Linie nicht der "Krankheit" an sich, sondern dem sieben Jahre andauernden öffentlichen Diskurs, in dem die magische Deutung der Geschehnisse ganz allmählich zurückgedrängt wurde. Zahlreiche längere Quellenzitate ermöglichen es dem Leser, der öffentlichen Auseinandersetzung um die "Annaberger Krankheit" zu folgen. Die im Anhang gedruckten Tabellen erleichtern sowohl die Zuordnung der von der "Krankheit" erfassten Personen als auch die der an der Debatte beteiligten Theologen und Ärzte.
Das einleitende Kapitel des Bandes steckt den theoretischen Rahmen der Arbeit ab. Bretschneider rekurriert auf die neuere Hexen- und Absolutismusforschung sowie die diskursanalytischen Arbeiten Michel Foucaults. Dabei warnt er vor dem in der älteren Literatur häufig vertretenen Interpretationsansatz, der die öffentliche Auseinandersetzung um die "Krankheit" vorschnell zum Siegeszug des aufklärerischen Deutungssystems deklariert. Zwar lasse sich der Diskurs um die "Annaberger Krankheit" in den Ausschließungsprozess von spekulativ-apriorisch arbeitenden Systemen wie der Hexenlehre zu Gunsten von empirischen Verfahrensweisen einordnen, aber in der Diskussion in Annaberg sei keineswegs der Erfolg der kritischen Interpretation sicher gewesen (16). Wichtig ist für den Autor auch die in der Tradition Foucaults getroffene Feststellung, dass ein Wechsel des Weltbildes auch einen Wechsel der Herrschaftsverhältnisse beinhalte (17).
Entsprechend dem von Bretschneider vertretenen Anspruch, die theoretische und praktische Auseinandersetzung um die Krankheit sei nur zu erklären, wenn die verschiedenen "theoretischen Deutungssysteme und das aus ihnen resultierende Handeln zusammengeführt" und in ihrem "lokalen, regionalen, sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Kontext" gesehen würden (12), widmet der Autor das zweite Kapitel der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Struktur Annabergs zu Beginn des 18. Jahrhunderts.
Im dritten, anschaulich geschriebenen Kapitel versucht Bretschneider eine ausführliche Rekonstruktion der Ereignisse von 1712/13 bis 1720. Die erste Masse von "Erkrankungen" trat bereits 1712/1713 auf und führte in Annaberg zu einer regelrechten Massenhysterie. Insgesamt wurden im Laufe der Jahre 20 Personen von Anfällen gepeinigt, darunter überwiegend Kinder und Jugendliche. Jeder einzelne Fall rief großes Interesse hervor und in den Zimmern der Kranken versammelten sich zahlreiche Neugierige. Bretschneider diskutiert auch mögliche medizinische Ursachen der Erkrankungen (Anmerkung 129), warnt aber vor Übertragungen von modernen Anamnese-Mustern auf die "Annaberger Krankheit", da dort kulturelle Wahrnehmungen eine große Rolle spielten. Die Vermutung, dass Hexerei für die Erkrankungen verantwortlich sei, wurde von den Personen, die zuerst erkrankten, selbst ins Spiel gebracht. Entsprechend dem traditionellen Muster der Hexereiverdächtigungen machten sie bestimmte Personen für das Auftreten der Krankheit verantwortlich. Durch die Häufung von Krankheiten im Frühsommer 1713 und die dadurch in Annaberg verursachte Unruhe sah sich die Obrigkeit gezwungen, den Hexereiverdächtigungen nachzugehen und ließ mehrere Personen inhaftieren. Gleichzeitig gab der gegenüber den Hexereiverdächtigungen eher skeptisch gesinnte Rat ein Gutachten an der medizinischen Fakultät der Universität Leipzig in Auftrag. Während in dem Gutachten ausgeführt wurde, die Krankheit könne auf übernatürliche Ursachen zurückgehen, urteilte der zuständige Leipziger Schöffenstuhl im Mai 1714, die Angeklagten sollten auf Widerruf freigelassen werden. Obwohl bereits der Schöffenstuhl einen Betrugsverdacht äußerte und die Isolation der Kranken verlangte, um so die öffentliche Ordnung wiederherzustellen, konnte der "Annaberger Krankheit" erst durch das harte Vorgehen der sächsischen Landesregierung im Frühjahr 1720 ein Ende gesetzt werden.
Das vierte und fünfte Kapitel beschäftigen sich mit der zeitgenössischen Debatte um die "Krankheit". Gegenstand der Untersuchung sind die von Pfarrern und Ärzten verfassten Streitschriften und Traktate sowie das Schriftgut, das im Rahmen der behördlichen Auseinandersetzung um die Ursache der Krankheit entstanden ist (Bittschreiben, Eingaben, Anordnungen, Gutachten). Bretschneider, der sich der historischen Anthropologie verpflichtet fühlt, lehnt die bisherige Deutung der Kontroverse als einem Kampf von Vernunft beziehungsweise Aufklärung gegen Einbildung beziehungsweise Aberglauben als überzogen ab, zumal in der zeitgenössischen Wahrnehmung noch keine scharfe Grenze zwischen Vernunft und Aberglauben existiert habe. Er sieht in der Kontroverse vielmehr ein Ringen von unterschiedlichen Deutungssystemen. Die Auseinandersetzung selbst war "Teil eines weltanschaulichen Systems in Transition, in dem die traditionellen den innovativen Wissensstrukturen noch nicht unterlegen waren, in dem beide in der Gesamtschau vielmehr noch im Stadium diskursiven Ringens ausharrten" (59). Wichtig erscheint Bretschneider die Tatsache, dass ein Teil der Protagonisten bereits im Laufe ihres Studiums mit den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen um den Pietismus und die Frühaufklärung in Kontakt kamen und so die von ihnen vertretenen Standpunkte in der Debatte um die "Annaberger Krankheit" eigentlich Teil von größeren diskursiven Zusammenhängen waren.
Im Mittelpunkt des sechsten Kapitels steht das Ende der "Krankheit". Erst durch die Intervention der Landesobrigkeit konnte das Betrugsgeständnis von Eva Elisabeth Hennigin, die im Laufe der Jahre immer wieder angeblich unter Anfällen gelitten hatte, erlangt werden, und erst nach ihrer Unterbringung in einem Zuchthaus kehrte in Annaberg wieder Ordnung ein. Die gelehrte Aberglaubenskritik im Kurfürstentum Sachsen wurde hier in die Praxis umgesetzt und brachte für die Annaberger Bevölkerung das Ende des dämonologischen Deutungsmusters der Vorgänge. Gleichzeitig wurde das Verhalten der Hennigin kriminalisiert und sie selbst aus dem Gemeinwesen Annabergs ausgegrenzt. Das Eingreifen der Landesregierung wurde auch deshalb notwendig, weil der Rat der Stadt seine Anordnungen nicht effektiv durchsetzen konnte, da ihm das notwendige Sanktionspotenzial fehlte. "Aus den anfangs verurteilten falschen Einbildungen wurden im Laufe der 'Annaberger Krankheit' Laster, Internalisierungen falscher Moral und schließlich kriminelles Verhalten, das aus der sozialen Gemeinschaft auszuschließen war" (110).
Eine knappe Zusammenfassung rundet diese durchaus gelungene Darstellung und Interpretation der Ereignisse um die "Annaberger Krankheit" sowie des um sie geführten wissenschaftlichen Diskurses ab. Die detaillierte Analyse des Schrifttums um die "Annaberger Krankheit" ermöglicht die Einordnung des Diskurses in größere Zusammenhänge und differenziert so die vorschnelle Deutung der Ereignisse als Kampf zwischen Aberglauben und Vernunft, in dem natürlich die Vernunft den Sieg davontragen musste.
Elisabeth Biesel