Bernd Heidenreich / Klaus Böhme (Hgg.): Hessen. Geschichte und Politik (= Schriften zur politischen Landeskunde Hessens; Bd. 5), Stuttgart: W. Kohlhammer 2000, 421 S., 39 Abb., ISBN 978-3-17-016323-2, EUR 34,00
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Bedingt durch seine zentrale Lage in der Mitte Deutschlands und Europas, als Verkehrsknotenpunkt, Warenumschlagplatz und Kapitalmarkt aber auch mit Frankfurt als häufigem Wahlort der deutschen Könige und Tagungsort des ersten demokratisch gewählten deutschen Parlaments haben sich in Hessen deutsche und europäische Geschichte stets in besonderer Weise verdichtet. In den 32 Beiträgen des vorliegenden Bandes werden deshalb zentrale Themen und Ereignisse der hessischen Landesgeschichte anhand historischer Orte von einem Autorenteam ausgewiesener Fachleute erörtert und in gesamtdeutsche und bisweilen europäische Zusammenhänge eingebettet. Gegliedert ist die im Wesentlichen chronologische Reihenfolge der Beiträge in die vier Themenbereiche Hessen und das frühe Europa, Hessen im Mittelalter, Hessen im Alten Reich und Hessen im 19. und 20. Jahrhundert.
Anhand der spektakulären frühkeltischen Funde der letzten Jahre stellt Fritz-Rudolf Herrmann den Glauberg nordöstlich von Frankfurt als zentralen Ort in der Vor- und Frühgeschichte Hessens vor, während Egon Schallmayer die Rolle des Limeskastells Saalburg in der Römerzeit erörtert. Mit den bereits im 8. Jahrhundert gegründeten Klöstern Fulda und Lorsch setzen sich die Beiträge von Rainer Polley und Hermann Schefers auseinander, wobei grundsätzliche Unterschiede deutlich werden: zwischen dem Benediktinerkloster Fulda mit seinem engen Verhältnis zu Bonifatius, dem es auch als Grabstätte diente, und Lorsch, das sich unter den Karolingern als Königskloster sehr rasch zum Zentrum des Wissens und der Rezeption der Antike entwickelte.
Hessen im Mittelalter sind insgesamt sieben Beiträge gewidmet. Während das Herrschergeschlecht der Konradiner von Gerd Althoff in seinem Verhältnis und seiner Bedeutung für die Wetterau vorgestellt wird, erörtert Karl Heinemeyer die Rolle der Kaiserpfalz Gelnhausen im Herrschaftsgefüge der Staufer und entwickelt Peter Moraw die Geschichte der Landgrafschaft Hessen anhand der Boyneburg unweit von Eschwege. Stellvertretend für viele religiöse Zentren in Hessen wird die Geschichte des Zisterzienserklosters Eberbach im Rheingau von Hartmut Heinemann in groben Entwicklungslinien dargelegt und Marburg von Matthias Werner als Ausgangsort für eine nahezu europaweite Ausbreitung des Elisabethkults gewürdigt. J. Friedrich Battenberg geht am Beispiel der ehemaligen Reichsstadt Friedberg auf die mittelalterliche Geschichte der Juden in Hessen ein, die hier eine große Gemeindetradition entwickelt haben. Hans-Otto Schembs schließlich stellt Frankfurt als Wahl- und Krönungsort der deutschen Könige vor.
Hessen im Alten Reich wird gleichfalls in sieben Beiträgen behandelt. Für die Reformationszeit in Hessen hat Wolfgang Breul-Kunkel das sehr aussagekräftige Beispiel Marburg gewählt, wohingegen für Eckhart G. Franz die "Schwedensäule" westlich des Dorfes Erfelden am Ufer des Altrheins als Aufhänger für die Behandlung des Dreißigjährigen Krieges in Hessen dient. Zwei hessische Residenzstädte hat Gerhard Menk im Blickfeld, wobei es zum einen um die Rolle der nassauischen Residenzstadt Dillenburg für den Aufstand der niederländischen Provinzen gegen Spanien geht und zum anderen um Residenzbildung und Schlossbau im waldeckischen Arolsen. Von einer Residenz ganz anderer Art handelt wiederum der Beitrag von Bernhard Diestelkamp über das 1693 in Wetzlar eröffnete Reichskammergericht und Recht und Rechtsprechung im Alten Reich. Inge Auerbach behandelt den Soldatenhandel mit Amerika, dem vom Frühjahr 1777 bis zum Sommer 1783 die Festung Ziegenhain als Sammellager diente, und schließlich geht Barbara Dölemeyer auf die Geschichte der Hugenottensiedlungen in Hessen am Beispiel von Karlshafen an der Weser ein, wo sich heute das Deutsche Hugenotten-Zentrum befindet.
Mit dem 19. und 20. Jahrhundert setzen sich insgesamt 14 Beiträge auseinander. Schloss Wilhelmshöhe in Kassel, das Kaiser Napoleon als Residenz des neu geschaffenen Königreichs Westfalen für seinen Bruder Jérôme Bonaparte vorgesehen hatte, dient Winfried Speitkamp als Aufhänger für die "Franzosenzeit", während Peter Fleck den "langen Ludwig" in Darmstadt als Verfassungsdenkmal des Vormärz versteht. In zwei Beiträgen stehen wiederum Personen im Mittelpunkt: Bernhard Lauer porträtiert die Brüder Grimm, deren Leben und Wirken stets ihrer hessischen Heimat verbunden blieb, und Eva-Maria Felschow stellt den von 1824-1852 in Gießen lehrenden Chemiker Justus von Liebig vor. Die Paulskirche in Frankfurt am Main, in der die erste frei gewählte deutsche Nationalversammlung tagte, ist das zentrale Symbol der Revolution von 1848/49, auf die Rainer Koch eingeht. Das Niederwalddenkmal bei Rüdesheim interpretiert Ralph Erbar im Kontext der Entstehung zahlreicher nationaler Symbole im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, die eine nationale Identität erzeugen sollten.
Mit unterschiedlichen industriellen Werken an verschiedenen Orten beschäftigen sich zwei Beiträge: Wolfram Heitzenröder erörtert am Beispiel der Opelwerke in Rüsselsheim das Verhältnis von Industrialisierung und Arbeiterschaft, und Walter Mühlhausen stellt den Poelzig-Bau in Frankfurt am Main vor, der zunächst als Schaltzentrale der I.G. Farben und damit der industriellen Macht diente und nach dem Zweiten Weltkrieg Sitz der amerikanischen Militärregierung wurde.
Mit Jugendstil und Jugendbewegung werden Kunst- und Kulturströmungen des frühen 20. Jahrhunderts thematisiert. Der Jugendstil in Deutschland erreichte, wie Renate Ulmer zeigt, mit der 1901 auf der Mathildenhöhe in Darmstadt stattfindenden Ausstellung "Ein Dokument Deutscher Kunst" seinen Höhepunkt. Burg Ludwigstein an der Werra und der Hohe Meisner waren Symbole und Treffpunkte für Jugendbewegte und Lebensreformer aus ganz Deutschland, deren Hintergründe und Motive Winfried Mogge darlegt.
Mit dem Lager Breitenau und der Anstalt Hadamar werden von Dietfrid Krause-Vilmar nationalsozialistische Verbrechen thematisiert, die sich in Hessen ereignet haben. Einen Bogen über den Zeitraum von über 150 Jahren spannt Klaus Peter Möller anhand des Gebäudes des Hessischen Landtages in Wiesbaden, das ursprünglich den Herzögen von Nassau als Stadtschloss diente. Mit seinem Beitrag über "Point Alpha" bei Rasdorf, einem ehemaligen Beobachtungsposten der US-amerikanischen Streitkräfte in Europa, erinnert Alfred Pletsch an den Kalten Krieg und die Deutsche Teilung, die Hessen als Nachbarland Thüringens in besonderer Weise betroffen haben. Abschließend weist Walter Wallmann auf die unabhängige Europäische Zentralbank hin, die ihre Arbeit am 1. Januar 1999 in Frankfurt am Main aufnehmen konnte
Der vorliegende Sammelband "Hessen. Geschichte und Politik" ist als fünfter Band der Schriften zur politischen Landeskunde Hessens erschienen und ergänzt die in der Reihe bereits vorliegenden Bände mit den Schwerpunkten "Eine politische Landeskunde", "Gesellschaft und Politik", "Wahlen und Politik" sowie "Verfassung und Politik". Sein Ziel ist es, Geschichte in Hessen von den keltischen Anfängen bis in die Gegenwart anhand von Gebäuden, Denkmälern, und Schauplätzen darzustellen und zu veranschaulichen. Er ist deshalb als Florilegium zur hessischen Geschichte zu verstehen, das weder das breite Spektrum der Landeskunde abdecken kann noch die gewählten Themen im wissenschaftlichen Diskurs erörtern möchte. Die flüssig geschriebenen Beiträge bieten dem interessierten Leser vielmehr einen guten Einstieg in zentrale Aspekte der hessischen Landesgeschichte, der sich mittels der angegebenen Literatur leicht vertiefen lässt.
Ulrich Ritzerfeld