Jerzy Kłoczowski: Historia Europy Środkowo-Wschodniej. [Geschichte Ostmitteleuropas], Lublin: Instytut Europy Srodkowo-Wschodniej 2000, 2 Bde: Bd. 1: 554 S., Bd. 2: 354 S., ISBN 978-83-85854-52-4
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Die deutsche Forschung arbeitet mit einem seit der Zwischenkriegszeit entwickelten und in den letzten 50 Jahren (Werner Conze, Klaus Zernack) modifizierten Ostmitteleuropabegriff. In intensiven Debatten seit den 1980er-Jahren wurde dieses Konzept insbesondere mit ungarischen und tschechischen (auf habsburgischen Traditionen aufbauenden) Ostmitteleuropavorstellungen konfrontiert, die teilweise in die deutsche Begriffsbildung einflossen. Kaum erfolgte dagegen eine Auseinandersetzung mit dem polnischen Ostmitteleuropabegriff. Dies hätte durchaus fruchtbar sein können, da die internationale Begriffsbildung zu einem erheblichen Teil von polnischen Historikern (Oskar Halecki, später Piotr Wandycz) angeregt und geprägt wurde. Die hier vorzustellende zweibändige Geschichte Ostmitteleuropas bietet eine Gelegenheit, diese Diskussion nachzuholen. Die beiden Bände wurden zudem auf einer Tagung in Lublin mit russischen, deutschen und jüdischen Historikern breit diskutiert; eine französischsprachige Version ist in Vorbereitung.
Zu beachten ist ferner die institutionelle Grundlage der Forschungsanstrengungen: Die vorliegende Gesamtdarstellung geht auf ein polnisch-französisches Gemeinschaftsprojekt zurück, welches am "Institut für Ostmitteleuropa" in Lublin angesiedelt ist, das gemeinsam von der dortigen Katholischen Universität und der staatlichen Marie Curie-Skłodowska-Universität getragen wird. Unter der Leitung von Jerzy Kłoczowski, einem durch Lebenslauf wie Œuvre gleichsam hoch angesehenen polnischen Historiker, finden in Lublin seit Anfang der 1990er-Jahre Konferenzen zu Aspekten der ostmitteleuropäischen Geschichte statt, die in mehreren englisch- und polnischsprachigen Sammelbänden publiziert wurden. Auf die Lubliner Anstöße ging 1992 die Einrichtung einer "Föderation ostmitteleuropäischer Institute" zurück. Seit 2001 ist in Lublin zudem ein ukrainisches Graduiertenkolleg angesiedelt.
Wie sieht nun der diese Synthese zugrunde liegende Ostmitteleuropabegriff aus? Kłoczowski verweist in seiner Einleitung auf die drei mittelalterlichen Kronen (Polen, Böhmen, Ungarn), die Ostmitteleuropa durch Staatsbildung und Christianisierung strukturiert hätten. Seit dem 14. Jahrhundert seien durch die Einbindung Litauens auch die späteren litauischen, weißrussischen und ukrainischen Territorien integriert worden. Weiterhin fordert Kłoczowski die Einbeziehung Altlivlands, Kroatiens und Sloweniens. In einem zweiten Schritt werden jedoch die Germania Slavica als Übergangsbereich und explizit Brandenburg-Preußen und Österreich als "vor allem im Rahmen der deutschen Geschichte zu behandeln" ausgegrenzt (8-10). Angemerkt sei, dass Kłoczowski hier hinter Postulate der polnischen Forschung, die seit Jahrzehnten bemüht ist, die Verbindungslinien zwischen preußischer und polnischer Geschichte aufzuzeigen (Marian Biskup, Janusz Małłek), zurückfällt. Wie die slowenische Geschichte ohne Behandlung Österreichs Berücksichtigung finden soll, entzieht sich der Vorstellungskraft des Rezensenten.
Band 1 liefert aus der Feder von fünf Autoren (H. Samsonowicz, Kłoczowski, D. Beauvois, M.-E. Ducreux und P. Wandycz) einen Abriss der so verstandenen Geschichte Ostmitteleuropas. Je nach Schwerpunkt der Autoren liegt das Schwergewicht eher auf der Wirtschafts- und Gesellschafts- (Samsonowicz, Beauvois, Ducreux), der Religions- (Kłoczowski) beziehungsweise der politischen Geschichte (Wandycz). Unverkennbar ist eine Dominanz Polen-Litauens, mithin des nördlichen Mitteleuropa, die durch das geografisch-demographische Potenzial der Großregion und den Lesehorizont der Autoren (keiner berücksichtigt die ungarischsprachige Historiographie, auch deutschsprachige Arbeiten fließen nur randständig ein) bedingt sind. Die Beiträge sind mehrheitlich in einem positivistisch-beschreibenden Stil gehalten, analytische Passagen treten zurück. Anzumerken ist, dass den Anforderungen einer synthetisierenden Darstellung leider nicht alle Autoren gewachsen waren. Dies gilt insbesondere für Beauvois' Darstellung Polen-Litauens und der polnisch-sächsischen Union im 18. Jahrhundert (243-259), die von sachlichen Unrichtigkeiten strotzt und nuancierende Ergebnisse der polnischen Geschichtsschreibung (Józef Gierowski, Jacek Staszewski) nicht berücksichtigt.
Band 2 enthält 12 Beiträge, die zwischen Essay und wissenschaftlichem Aufsatz schwanken. Behandelt werden die Ethnogenese der ostmitteleuropäischen Nationen, die mittelalterliche Wirtschaft der Großregion, der Ordensstaat, Preußen und Altlivland im Mittelalter (jeweils Samsonowicz), Forschungskontroversen zur ukrainischen Geschichte (Beauvois), die polnisch-litauische Union, die Toleranzidee in Polen-Litauen und die Brester Union (jeweils Kłoczowski), die Gesellschaftsgeschichte von Adel und Intelligenz in Polen-Litauen im 18./19. Jahrhundert (Beauvois), die Nationsbildung und nationale Aufstände (jeweils Wandycz), die überkonfessionelle Identität der Tschechen (Ducreux), die Verfassungsgeschichte Ostmitteleuropas in der Zwischenkriegszeit und die Minderheitenkonflikte (jeweils Wandycz). Am Schluss steht ein nützlicher Literaturüberblick zum Völkermord an den Juden in der ostmitteleuropäischen Forschung (Natalia Aleksiun). Ergänzt wird der Band durch eine 75-seitige Bibliografie (leider mit erheblichen Fehlern und sinnentstellenden Auslassungen bei deutschsprachigen Titeln).
Bereits aus dieser Aufzählung werden zwei grundsätzliche Probleme erkennbar: Erstens sind Doppelungen zwischen beiden Bänden sichtbar. Gravierender ist jedoch, dass Chancen für einen ostmitteleuropäischen Vergleich nicht wahrgenommen werden: An Stelle des Beitrags über die polnisch-litauische Union wäre ein Beitrag über Personal- und Realunionen in Ostmitteleuropa sinnvoller gewesen, der auch die habsburgischen Personalunionen beziehungsweise die polnisch-sächsische Union berücksichtigt hätte. Anstatt nur die Toleranztraditionen in Polen-Litauen vorzustellen, hätten auch Mähren oder Siebenbürgen einbezogen werden können. Ähnlich die Kirchenunionen: Warum werden die Unionen in Siebenbürgen, in Ruthenien und in Slavonien nicht berücksichtigt? Auch prägende Faktoren der ostmitteleuropäischen Geschichte werden nur am Rande berücksichtigt: Nirgendwo wird beispielsweise die strukturbildende Anwesenheit (siedlungs- und lehnsrechtliche Überformung, gesellschaftliche Schichtung, städtische Strukturen) größerer jüdischer und deutscher Bevölkerungsgruppen in Ostmitteleuropa überblicksweise behandelt. Zur Illustration: Zwar tauchen zum Beispiel in Statistiken um 1900 die Deutschen als nach Ukrainern und Polen drittgrößte Bevölkerungsgruppe Ostmitteleuropas auf (Band 1, 420), welche Rolle aber diese geheimnisvollen Deutschen spielten, bleibt dem Leser verborgen.
Ähnlich unzureichend ist auch die selektive Behandlung der ostslavisch-russischen Geschichte, die bei der Einbeziehung Litauens, Weißrusslands und der Ukraine erheblich größeres Gewicht verdient hätte. Um keine Missverständnisse zu wecken: Es gibt gute (gesellschafts- und religionsgeschichtliche) Gründe, die für eine Einbeziehung dieser Regionen seit dem 14. Jahrhundert in die ostmitteleuropäische Geschichte sprechen. Allerdings müsste dies auf Grund der Größe des dann zu berücksichtigen Raumes und des Gewichts dieser Bevölkerungen erhebliche konzeptionelle Konsequenzen nach sich ziehen.
Insgesamt bleibt ein zwiespältiger Eindruck zurück: Einerseits ist es verdienstvoll, die Perspektive auf ein größeres Ostmitteleuropa in einer Synthese zu entwickeln, andererseits ist die gewählte Darstellung stark polonozentrisch, in konzeptionellen Bereichen nicht ausgeführt und nur in schmalen Abschnitten weiterführend.
Hans-Jürgen Bömelburg