Rezension über:

Gerald Lamprecht: Feldpost und Kriegserlebnis. Briefe als historisch-biographische Quelle (= Grazer zeitgeschichtliche Studien; Bd. 1), Innsbruck: StudienVerlag 2002, 260 S., ISBN 978-3-7065-1549-8, EUR 24,80
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Rezension von:
Petra Ernst
Karl-Franzens-Universität, Graz
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Petra Ernst: Rezension von: Gerald Lamprecht: Feldpost und Kriegserlebnis. Briefe als historisch-biographische Quelle, Innsbruck: StudienVerlag 2002, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 7/8 [15.07.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/07/3415.html


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Gerald Lamprecht: Feldpost und Kriegserlebnis

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Die Herausgeber des vorliegenden ersten Bandes der neu eingerichteten Reihe "Grazer zeitgeschichtliche Studien", Klaus Hödl und Werner Suppanz, erklären ihr editorisches Engagement mit dem Hinweis darauf, dass an der Abteilung Zeitgeschichte der Grazer Karl-Franzens-Universität in den letzten Jahren Arbeiten entstanden sind, die trotz ihrer hohen Qualität nur selten publiziert werden konnten. Die Ursachen liegen unter anderem wohl darin begründet, dass in Österreich allgemein keine Publikationspflicht für Doktorarbeiten besteht, und dass (in der Folge?) die wenigen österreichischen Wissenschaftsverlage, gemessen an Deutschland, vergleichsweise hohe Druckkostenzuschüsse für Publikationen verlangen. So ist die Aufnahme in eine wissenschaftliche Reihe für junge österreichische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler besonders wichtig, werden sie dadurch doch einerseits auf einer pragmatischen Ebene bei ihren Ansuchen um öffentliche Subventionen unterstützt, andererseits ist damit häufig ein erstes Auftreten vor einem größerem Fachpublikum verbunden.

Mit dem vorliegenden Band präsentiert der Grazer Zeithistoriker Gerald Lamprecht eine überarbeitete und erweiterte Version seiner Diplomarbeit, die - wie er selbst im Vorwort schreibt - im Vorfeld der ersten Wehrmachtsausstellung "Vernichtungskrieg, Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944", die in Graz von Dezember 1997 bis Januar 1998 gezeigt wurde, ihren Ursprung hat. Die öffentliche Diskussion und die Einrichtung einer "Geschichtswerkstatt Graz '97" zum Thema "Der Krieg geht uns alle an. Wie gehen wir damit um?" veranlasste damals einige Personen, private Dokumente für Forschungszwecke zur Verfügung zu stellen. Darunter befand sich auch eine scheinbar lückenlos erhalten gebliebene Sammlung von Kriegsfotografien, Feldpostbriefen und -karten, die der Wehrmachtsoldat G. H. vom Juli 1939 bis zu seinem Tod im Oktober 1944 an seine Familie geschickt hatte. G. H., 1899 in Berlin als Sohn eines evangelischen Pfarrers geboren, Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg, hatte sich als 31-jähriger mit seiner Familie als reichsdeutscher Siedler im steirischen Grenzland zu Jugoslawien auf einem Bergbauernhof niedergelassen. Mitte 1939 meldete er sich freiwillig zur Wehrmacht und kam im Laufe des Krieges als Wehrmachtsoldat an verschiedene Kriegsschauplätze, unter anderem nach Norwegen, in die Slowakei, nach Kroatien, Ungarn, Italien und Tunesien.

Wie von den Herausgebern angeführt, wurde der Feldpostbrief als historische Quelle in der österreichischen Zeitgeschichtsforschung bislang eher vernachlässigt. Möglicherweise hängt das auch damit zusammen, dass für sinnvolle Fragestellungen interdisziplinäre Ansätze unumgänglich sind. Lamprecht ist sich dessen bewusst und erörtert in einem umfangreichen Einleitungsteil zunächst soziologische, textwissenschaftliche und kommunikationstheoretische Probleme, die sich bei der Untersuchung von Feldpostbriefen und Kriegsfotografien ergeben. Dass er sich als methodische Grundlage im Rahmen textanalytischer Fragestellungen fast ausschließlich auf Ulrich Oevermanns "objektive Hermeneutik" stützt, birgt eine gewisse Gefahr, vor allem da die praktische Anwendung auf ein größeres Textkorpus eigentlich nicht möglich ist. Lamprecht verweist auf die die Analyse erschwerenden Einschränkungen - zum Beispiel innere und äußere Zensur, Schwierigkeit der schriftlichen Artikulation, eingeschränkte Wahrnehmungsfähigkeit des Schreibers -, formuliert aber in der Konsequenz jene Fragen, auf die ihm die Feldpostbriefe Antworten eröffnen können. Nach welchen Mustern werden zum Beispiel einzelne Kriegserlebnisse des Soldaten mit Sinn versehen? Genügt das individuelle und "soziale Wissen" des Briefschreibers und/oder inwieweit wird auf nationalsozialistische Propaganda als "sinnstiftendes Interpretationsangebot" zurückgegriffen? Spiegeln sich Tendenzen der schriftlichen Kommunikation auch in den Fotografien wider? Wie werden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verknüpft und mit Sinn versehen? Wie werden von soldatischer Seite Kriegsereignisse verarbeitet, verdrängt, kommuniziert? Welche Stellung kommt der Familie zu? Welche zwischenmenschlichen Beziehungen werden im Schreiben konstruiert beziehungsweise 'festgeschrieben'?

Diesen und weiteren Fragen geht Lamprecht im zweiten und dritten Teil seiner Arbeit nach. Dabei hält er sich an die durch die Briefe vorgegebene Chronologie und folgt damit sowohl der Biografie des Verfassers G. H. wie auch dem Kriegsgeschehen, das Lamprecht den jeweiligen Kriegsschauplätzen entsprechend dem Leser vergegenwärtigt. Sehr übersichtlich und bis ins Detail nachvollziehbar erweist sich das Verfahren, die vielen zitierten Briefstellen in einen überindividuellen Zusammenhang zu stellen und die Beschreibungskategorien immer wieder zu benennen. Besonders hervorzuheben ist auch die gründliche Quellenforschung in Bezug auf die militärische Laufbahn des Wehrmachtsoldaten G. H., sodass in der Zusammenschau von Briefen, biografischen Fakten und historischen Umständen bei aller Komplexität der Thematik doch recht klare Aussagen bezüglich der untersuchten Problematik zu machen sind.

Inwieweit sich die Untersuchungsergebnisse dieses einen, allerdings recht umfangreichen Konvoluts von Briefen und Fotografien verallgemeinern oder auf ein größeres Textkorpus und damit auf eine größere Gruppe von Personen übertragen lassen, kann (und will) das vorliegende Buch nicht mitteilen. Neben seinen konkreten Resultaten, die durchaus als exemplarisch angesehen werden können, bietet es zugleich fruchtbare Ansätze für vergleichende und weiterführende Arbeiten.


Petra Ernst