Peter Dietl: Nicholas Hawksmoor (1661-1736) - Kirchenbauten. Hawksmoors Arbeiten für die Commission for Building Fifty New Churches (1711). Form und Bedeutung, Entwurf und Entwurfsmethode - Entstehung und Hintergrund. Eine Untersuchung zur Genese architektonischer Form, Norderstedt: Books on Demand 2000, 4 Bde, insg. 1189 S., 210 Abb., ISBN 978-3-89811-967-2, EUR 101,75
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Die Abstinenz der deutschen Kunstgeschichtsschreibung auf dem Feld der englischen Barockarchitektur ist schon fast legendär. Umso lobenswerter ist der Versuch Peter Dietls, die Kirchenbauten des englischen Architekten Nicholas Hawksmoor einer komplexen Analyse zu unterziehen, die im Unterschied zu bisherigen Forschungsansätzen über die bau- und stilgeschichtlichen Aspekte hinaus auch den intellektuellen Horizont dieser Architektur mit einbezieht.
Konkret beschäftigt sich Dietl mit jenen sechs Kirchenbauten, die Hawksmoor im Kontext der 1711 getroffenen Parlamentsentscheidung für die Errichtung 50 neuer Kirchen in London zwischen 1714 und 1733 realisierte und die noch heute neben den Entwürfen Christopher Wrens und James Gibbs zu den interessantesten Sakralarchitekturen der Stadt zählen. So entwickelt Hawksmoor in seinen Entwürfen eine höchst eigenwillige, bisweilen als egozentrisch charakterisierte Architektursprache, die schon zu Lebzeiten des Architekten kontrovers diskutiert wurde.
Allerdings interessiert sich Dietl in seiner Studie zunächst nicht für den englischen Architekturdiskurs und seine Antagonismen. Stattdessen stellt er die sechs Kirchenentwürfe Hawksmoors von Saint Alfege bis Saint Mary Woolnoth im Einzelnen vor, wobei er den baulichen Prozess auf der Basis umfassenden Archivmaterials jeweils nachzuvollziehen sucht. Jede dieser sechs Kirchen erfährt daher eine ausführliche Baubeschreibung, die in ihrer Kleinstufigkeit an das Inhaltsverzeichnis eines bautheoretischen Architekturtraktates erinnert. Sodann schließt sich eine Rekonstruktion des Entwurfsprozesses selbst an, worauf schließlich die realisierte Fassung mit den verschiedenen Entwurfsvarianten ausführlich verglichen wird.
Erst im dritten Band dieser opulenten Studie erfolgt die langersehnte Syntheseleistung, indem die zuvor herausgearbeiteten Charakteristika der Architektur Hawksmoors zum ersten Mal zusammengefasst und analysiert werden. Hieran schließt sich eine Untersuchung der Einflussnahme durch die staatskirchlichen Auftraggeber und der "commission for building fifty new churches" sowie eine Einordnung der Architektur in ihren architekturtheoretischen, ästhetischen und geistesgeschichtlichen Kontext an.
Dietl verfolgt somit eine induktive Methode, die sich nach eigener Verlautbarung Erwin Panofskys ikonologischem Dreistufenmodell verdankt. Allerdings nimmt Dietl mit seiner 713 Seiten starken Baubeschreibung die Erfassung der reinen Form bei Panofsky allzu genau. Die Suggestion wissenschaftlicher Naivität durch das allmähliche Verfassen der Gedanken beim Schreiben ist wenig überzeugend und führt zu zahlreichen, kaum zu tolerierenden Wiederholungen. Vielmehr hätte es der Studie zum Vorteil gereicht, wenn die Charakteristika der Architektur Hawksmoors von Beginn an in einer alle Projekte berücksichtigenden Analyse definiert worden wären, ohne dabei die Differenzen zwischen den einzelnen Entwürfen über Gebühr zu nivellieren - zumal Dietl zu Beginn seines dritten Bandes auf die große Zahl übereinstimmender Gestaltungsprinzipien in allen untersuchten Kirchen aufmerksam macht.
Dietls feinsäuberliche Trennung von Baubeschreibung, Bauanalyse und Semantik hingegen erschwert erheblich den Nachvollzug der gewonnenen Erkenntnisse, sodass die Deutung der Architektur Hawksmoors als ein staatskirchliches Repräsentationsmedium kaum nachvollziehbar ist. Etwa erschließt sich nur bedingt, warum Hawksmoors Aufgreifen des basilikalen Kirchengrundrisses auf die Hagia Sophia und hiermit verbunden auf die vermeintlich harmonische Eintracht von Staat und Kirche unter Konstantin verweist. Vielmehr handelt es sich schlichtweg um den Archetypus christlicher Sakralarchitektur, der sich neben dem Zentralbau in der europäischen Architekturgeschichte durchgesetzt hatte. Auch der Verweis auf die ursprüngliche Funktion der Basilika als Gerichtssaal und die spätere Umdeutung dieses Bautypus im Kontext frühchristlicher Kirchenarchitekturen als Haus Gottes stellt noch kein eindeutiges Indiz für die Instrumentalisierung der Architektur durch die anglikanische Kirche dar.
Ebenso gilt es, die Adaption der Palastarchitektur in Hawksmoors Entwürfen im Hinblick auf ihren ideologischen Gehalt genauer zu untersuchen, wenn man sie konkret als architektonische Übersetzung politischer Überzeugungen und nicht etwa als bloße Adaption eines architektonischen Typus verstehen möchte. Ein selektiverer Zugriff auf Hawksmoors Architektur zu Gunsten einer klar strukturierten Analyse insbesondere auch vor dem Hintergrund der barocken Sakralarchitektur Englands und ihrer kontinentalen Einflüsse hätte in dieser Hinsicht sicherlich zur weiteren Klärung beigetragen.
Abgesehen von diesen doch eklatanten Defiziten in methodischer und inhaltlicher Hinsicht enthält der dritte Band der Studie einige interessante Erkenntnisse, die in der bisherigen Forschungsliteratur allenfalls angerissen worden sind. So kann Dietl etwa nachweisen, dass Hawksmoor ganz im Sinne der späteren "architecture parlante" eine Architektur anstrebte, die mithilfe einer poetisch assoziativen Überformung architektonischer Motive die emotionale Überwältigung ihres Betrachters bewirken sollte. Dabei bediente sich Hawksmoor eklektizistisch der unterschiedlichsten Architekturformen von der antik-römischen Mauerwerksarchitektur bis zum zeitgenössischen Barock eines John Vanbrugh. Allerdings wurden die rezipierten Formen durch den schematisierenden Primitivismus Hawksmoors bisweilen zur Unkenntlichkeit entstellt und in eine additive Architektursprache überführt.
Dietl erkennt daher hinter den gestalterisch höchst verschieden wirkenden Projekten ein gemeinsames Kompositionsprinzip, das auf die Zerstörung der organischen Architekturauffassung abzielt, wie sie noch dem italienischen Barock eigen war. Bereits Emil Kaufmann hat für den englischen Barock insgesamt die Dekonstruktion des klassischen Gestaltideals als ein wesentliches Merkmal herausgearbeitet. Doch unternimmt Dietl zum ersten Mal den Versuch, dieses Phänomen auch an die zeitgenössische Diskussion ästhetischer und architekturtheoretischer Fragen zurückzubinden. Dabei verfällt er keineswegs der naiven Vorstellung, dass Hawksmoors Entwürfe konkret den architektonischen Aggregatzustand theoretischer Zusammenhänge bilden. Er stellt allein diejenigen ideengeschichtlichen Entwicklungen am Übergang zum 18. Jahrhundert dar, die Hawksmoor in seiner für die damaligen Verhältnisse kompromisslosen Architekturästhetisierung bestärkt haben könnten.
Ausgehend von Hawksmoors überlieferten Ansichten zur Architektur, die im Wesentlichen durch einen architektonischen Relativismus geprägt sind, spürt Dietl den architekturtheoretischen Quellen des Architekten nach. So wird deutlich, dass Hawksmoor neben der vitruvianischen Tradition insbesondere durch die Schriften Claude Perraults beeinflusst wurde, dessen revolutionäre Deutung des Schönen als einer dem Wandel subjektiver Gewohnheiten und Vorlieben unterworfenen Kategorie den englischen Architekturdiskurs von Christopher Wren bis William Chambers maßgeblich beeinflusst hat. Dabei weist Dietl ganz richtig auf die geistige Verwandtschaft zwischen Perraults Relativismus und der zeitgenössischen englischen Philosophie hin, die sich auf der Basis des Empirismus Francis Bacons einer sensualistischen Weltsicht verschrieben hatte. Für die Architektur ergab sich hieraus die einschneidende Konsequenz, dass das Schöne nicht mehr kosmologisch, sondern nur noch über die ästhetische Praxis des Subjekts legitimiert werden konnte. Dass dieser neue Blick auf die Architektur im weitesten Sinne zu einer Transformation der klassischen Architektursprache führen musste, ist selbstverständlich. Allerdings gilt dieser Zusammenhang nicht allein für die barocke Architektur eines Hawksmoor, die Dietl als relativistisches Gegenstück zum normativen Palladianismus interpretiert. Schließlich greift auch die palladianische Architekturästhetik auf die neuen sensualistischen Schriften von Addison bis Shaftesbury zurück, in denen bei aller Subjektivierung ästhetischer Fragen dennoch an einem klassizistischen Kunstbegriff festgehalten wird. Ihren architektonischen Ausdruck findet diese Dialektik auch hier in dem Verzicht auf ein alles umfassendes Proportionssystem.
Somit liegt der englischen Architektur des frühen 18. Jahrhunderts insgesamt eine antiorganische Architekturauffassung zu Grunde, die in ihrer jeweiligen ästhetischen Konzeption zweifelsohne zu stark divergierenden Wirkungsabsichten geführt hat. Insofern greift Dietls Polarisierung zwischen ästhetischer Subjektivität bei Hawksmoor einerseits und neoplatonischer Objektivität im Palladianismus andererseits nur bedingt.
Carsten Ruhl