Rezension über:

Alexander Ignor: Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532-1846. Von der Carolina Karls V. bis zu den Reformen des Vormärz (= Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft. Neue Folge; Bd. 97), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2002, 324 S., ISBN 978-3-506-73398-6, EUR 34,80
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Rezension von:
Peter Oestmann
Institut für Rechtsgeschichte, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Peter Oestmann: Rezension von: Alexander Ignor: Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532-1846. Von der Carolina Karls V. bis zu den Reformen des Vormärz, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2002, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 9 [15.09.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/09/3413.html


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Alexander Ignor: Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532-1846

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Rechtshistorische Gesamtdarstellungen zur Strafrechtsgeschichte haben Seltenheitswert. In den vergangenen sechzig Jahren sind nur zwei Werke erschienen, die den Anspruch erheben, die gesamte Geschichte des Strafrechts darzustellen. Eberhard Schmidts "Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege" erschien 1947 (3. Auflage 1965) und ist das sehr persönliche Dokument des Autors für seinen Glauben an überzeitliche Gerechtigkeitswerte. Etwa 35 Jahre nach Schmidt veröffentlichte Hinrich Rüping seinen "Grundriß der Strafrechtsgeschichte", eine für studentische Leser gedachte Zusammenfassung von etwa 120 Seiten. Trotz des enorm gewachsenen Interesses an historischer Kriminalitätsforschung und des groß angelegten Projekts zur Entstehung des öffentlichen Strafrechts ist eine neue rechtshistorische Gesamtdarstellung dieses klassischen Bereichs der Rechtsgeschichte bisher nicht erschienen. Dem Berliner Strafverteidiger Alexander Ignor kommt das große Verdienst zu, diese Lücke für ein zentrales Gebiet geschlossen zu haben.

Die "Geschichte des Strafprozesses" beruht auf Ignors Würzburger Habilitationsschrift von 1996/97, wurde für die Drucklegung jedoch im Hinblick auf einen größeren Leserkreis überarbeitet. Das Ergebnis, dies kann hier vorweggenommen werden, verdient höchstes Lob. Dem Autor gelingt es mit seinem gut lesbaren Werk, das Interesse nicht nur der Fachleute zu fesseln. Ignor nimmt seinen Leser an die Hand und geleitet ihn sicher durch dreihundert Jahre deutschen Strafprozess.

Genau genommen handelt es sich nicht um eine Gesamtdarstellung. Dies liegt weniger an der zeitlichen Beschränkung auf die Zeit ab Erlass der Carolina. In den ersten Teilen des Buches greift Ignor nämlich historisch weit zurück und geht auch auf den traditionellen deutschrechtlichen Prozess sowie auf das gelehrte mittelalterliche Recht ein. Entscheidend ist vielmehr eine Beschränkung auf ausgewählte Gesichtspunkte. Drei Leitfragen sind es, die das Rückgrat bei der Darstellung der jeweiligen Epochen bilden. Der Autor wendet sich jeweils dem Verfahrensgang, dem Beweisrecht sowie der Verteidigung des Beschuldigten zu. Das sind zentrale Bereiche, an denen die Veränderungen des Verfahrensrechts besonders anschaulich werden. Die Prozesspraxis blendet Ignor weitgehend aus.

In den Einzelheiten sind die historischen Tatsachen, die Ignor präsentiert, oftmals bekannt. So wurde beispielsweise der Strafprozess der Carolina bereits 1904 von August Schoetensack dargestellt. Die Entstehung des Inquisitionsprozesses hat Winfried Trusen erforscht, andere Teilbereiche wie Hexenprozesse sind ebenfalls gut erforscht. Diese Vorarbeiten mindern das Verdienst Ignors jedoch in keiner Weise. Die schlüssige Verknüpfung der Einzelaspekte lässt den gemeinrechtlichen Prozess vor den Augen des Lesers gleichsam neu entstehen.

Ignor verknüpft die Normengeschichte mit der Wissenschaftsgeschichte, analysiert also sowohl zeitgenössische Gesetze von der Carolina bis zum preußischen Verfahrensgesetz vom 17. Juli 1846 als auch die Werke der Kriminalisten, also Carpzov, Beccaria, Feuerbach und Mittermaier. Für das späte 18. und 19. Jahrhundert gerät auch die Verfassungsgeschichte ins Blickfeld. Vor allem für die Zeit seit der Mitte des 17. Jahrhunderts war der Autor weitgehend auf die eigenständige Auswertung der Gesetze und Literatur angewiesen. So war etwa über die partikularen Strafprozessordnungen des 18. Jahrhunderts bisher nicht viel bekannt. Die zahlreichen Fußnoten des Bandes ermöglichen dem Leser zudem einen problemlosen Zugriff auf die kriminalrechtliche Literatur der Frühen Neuzeit. Hier liegt ein großer Nutzen des Werkes für die allgemeinhistorische Kriminalitätsforschung.

Stärker als die Einzelergebnisse beeindruckt der große Rahmen, in den Ignor die dreihundert Jahre deutschen Strafprozess einpasst. Historisch sieht er zutreffend die Sünde gegen Gott als Kern der Strafbarkeit im gemeinrechtlichen Inquisitionsprozess. Strafrecht bezweckte nicht nur Rechtsgüterschutz, sondern die Wiederherstellung der verletzten Ehre Gottes. Prozessual war das Geständnis damit nicht nur ein notwendiges Beweismittel, sondern als Beichte für das Seelenheil des Täters ebenfalls bedeutsam (68, 72). Als im späten 18. Jahrhundert dieses Konzept immer weniger zu überzeugen vermochte, begründete man die Notwendigkeit von Strafen vor allem mit der gemeinen Sicherheit als Staatszweck. Neben dieser historischen Zäsur verfolgt Ignor aus analytischen Gründen eine weitere Dichotomie. Der Strafprozess ist für ihn das Resultat eines beständigen Ringens zwischen Sicherheit und Freiheit beziehungsweise zwischen der Verfolgung und Bestrafung Schuldiger und dem Schutz und der Schonung Unschuldiger. In jeder historischen Epoche wurden beide Ziele verfolgt, wobei sich je nach Schwerpunktsetzung die Waagschale mehr zu der einen oder anderen Seite neigen konnte.

An dieser Stelle sind denn auch die interessantesten Ergebnisse des Buches angesiedelt. So erkennt man die erstaunlich starke Stellung des Inquisiten im Inquisitionsprozess (119) und sieht vor allem, dass die Reformbewegung im frühen 19. Jahrhundert mit ihren Forderungen nach Anklageprinzip, Öffentlichkeit, Mündlichkeit und freier richterlicher Beweiswürdigung keineswegs nur eine Abkehr vom angeblich zu grausamen Inquisitionsprozess bedeutete. Vielmehr war der Inquisitionsprozess ohne Folter zahnlos geworden, und die Prozessualisten überlegten, wie man die Effizienz der Strafrechtspflege verbessern konnte. Insbesondere Beccaria wandte sich nicht nur gegen Folter und Todesstrafen, sondern betonte zugleich, für eine wirksame Strafrechtspflege sei die Gewissheit einer unverzüglichen und unausweichlichen Bestrafung des Täters unabdingbare Voraussetzung. Die Einbeziehung Beccarias verdeutlicht, dass Ignor sich nicht auf deutsche Quellen beschränkt, sondern die Diskussionen des europäischen Auslands einbezieht, wenn auch längst nicht in derselben Intensität wie Mathias Schmoeckel in seiner Untersuchung über die Abschaffung der Folter. Das thematische und historische Ende von Ignors Darstellung bildet das preußische Verfahrensgesetz vom Juli 1846, das zum ersten Mal in Deutschland den reformierten Strafprozess einführte, nachdem ein badischer Entwurf von 1845 nicht in Kraft gesetzt wurde.

An zwei Punkten entzündet sich dennoch Kritik. Der erste Punkt betrifft den Verzicht auf die Darstellung der Prozesspraxis. Diese Beschränkung ist methodisch legitim, müsste dann aber konsequent durchgehalten werden. Dagegen präsentiert Ignor auf über fünf Seiten einen Meißener Wünschelrutenfall aus dem frühen 18. Jahrhundert, um zu zeigen, dass es sich bei den gemeinrechtlichen Lehren zum Inquisitionsprozess "keineswegs nur um graue Theorie gehandelt hat" (138). Den Fall, den der Autor schildert, übernimmt er aus einem Aufsatz von Ernst Boehm von 1941. Das ist als Zweitverwertung nicht nur unelegant, sondern methodisch auch fragwürdig, denn nun hätte man zu jeder historischen Epoche klären können beziehungsweise müssen, ob es sich bei den dargestellten Lehren nicht ebenfalls um graue Theorie gehandelt hat.

Der zweite Einwand betrifft die Proportionierung des Schlussteils. Die Entstehungsgeschichte des preußischen Gesetzes von 1846 wird erheblich zu ausführlich dargestellt (263-279), wenn man den Anspruch des gesamten Buches berücksichtigt. Die Namen sämtlicher Ministerialbeamter und die genauen Wochentage, wann welche Vorlagen beraten wurden, sind in einer Geschichte des deutschen Strafprozesses fehl am Platz. Anscheinend war der Autor hier bestrebt, ein von ihm ausgewertetes Manuskript des späteren Justizministers Heinrich von Friedberg zu angemessener Wirkung kommen zu lassen (263, Fußnote 27).

Insgesamt handelt es sich jedoch um eine gelungene, fesselnd zu lesende Darstellung der deutschen Strafprozessrechtsgeschichte. Der Mut des Autors zum Bilanzziehen, zu notwendigen Vereinfachungen und zur Herausarbeitung der großen Linien hat sich vollauf gelohnt. Dem Buch ist eine hohe Verbreitung zu wünschen, nicht nur bei Juristen, sondern insbesondere bei Historikern.


Peter Oestmann