Merja Kylmäkoski: The Virtue of the Citizen. Jean-Jacques Rousseau's Republicanism in the Eighteenth-Century French Context (= Europäische Studien zur Ideen- und Wissenschaftsgeschichte / European Studies in the History of Science and Ideas; Vol. 10), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2001, 213 S., ISBN 978-3-631-37943-1, EUR 35,30
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Die Republikanismusforschung hat dank prominenter Forscher wie Quentin Skinner und J.G.A. Pocok in den letzten Jahrzehnten einen bemerkenswerten Aufschwung erlebt. Was meint "classical republicanism", der auch als "civic humanism" bezeichnet wird? " Classical republicans" wie John Milton (1608-1674) und James Harrington (1611-1677) sahen die Antike als vorbildlich an, befürworteten zumeist den Tyrannenmord, ohne eine Monarchie generell abzulehnen, und betonten die Notwendigkeit der politischen Partizipation. Freiheit spielte eine zentrale Rolle, die es im Sinne einer Förderung des öffentlichen Wohls zu nutzen galt.
Die vorliegende Studie, die 2000 von Merja Kylmäkoski an der Universität von Tampere (Finnland) als Dissertation eingereicht wurde, versucht, die Ergebnisse der Republikanismusforschung auch für die französische Ideengeschichte fruchtbar zu machen, indem sie das Werk Jean Jacques Rousseaus mit den Aussagen zeitgenössischer französischer Autoren und den Ergebnissen der englischen Republikanismusforschung vergleicht. Die Arbeit vertieft die Ergebnisse einer unpublizierten Licentiate Thesis, die im Dezember 1997 am Department of Political Science and International Relations der Universität von Tampere als Qualifikationsschrift vorlag und sich mit Rousseaus Bürgerideal von 1749 bis 1771 beschäftigt. Kylmäkoski, die als researcher am Research Institute for Social Sciences der Universität von Tampere arbeitet, hat es sich zum Ziel gesetzt, Rousseaus Bürgerideal im Rahmen einer "study of intellectual history" (20) zu kontextualisieren.
"Intellectual history" - für Kylmäkoski impliziert dieser Begriff folgendes: "something which deals with thoughts and human activity in a particular historical period" (23). Das Vergleichsmaterial liefern sieben Lexika - die "Encyclopédie", das "Dictionnaire historique et critique" Pierre Bayles, Abbé Férauds "Supplement du dictionnaire critique de la langue française", Furetières "Dictionnaire universel", das "Dictionnaire historique" Louis Moréris, das "Dictionnaire universel françois et latin" von Trévoux und das "Grand vocabulaire français". In der Abhandlung selbst werden die einzelnen Artikel zumeist in Form einer Paraphrase vorgestellt und mit den Aussagen Rousseaus kontrastiert.
Das Werk ist in sieben Kapitel gegliedert, die durch eine Bibliografie und ein französisches Résumé ergänzt werden; ein Register fehlt. Die Einleitung formuliert das Ziel der Untersuchung, gibt einen kurzen Überblick über das Wesen des "classical republicanism" und skizziert die Forschungs- und Quellenlage. Die theoretischen Überlegungen, welche in diesem Zusammenhang vorgetragen werden, wirken manchmal allerdings etwas simplifizierend: "we are dealing with questions and answers when we are practising intellectual history" (23).
Im zweiten Kapitel erfolgt eine Klärung der zentralen Begriffe des Republikanismus. Der Terminus "république" war stark von der zeitgenössischen, durch Montesquieu geprägten Wahrnehmung der römischen Republik oder des spartanischen Staates beeinflusst. Dies gilt auch für Rousseaus Ideal des "citoyen". Die Tugend, "vertu", besitzt für Rousseau vor allem politischen Charakter und trägt keine eindeutig christlichen Züge - sie zeigt sich im Sieg über die Leidenschaften und ist eng mit dem Begriff "patrie" verknüpft.
Rousseaus Denken wäre ohne angemessene Würdigung seiner Herkunft kaum verständlich: "it would be difficult to understand his republicanism without a knowledge of Geneva" (37). So steht Genf, die Heimat Rousseaus, des "citoyen de Genève", und Wirkungsstätte Calvins, im Zentrum des dritten Kapitels. In diesem Zusammenhang werden im Anschluss an die "Ordonnances somptuaires", die Genfer Luxusgesetze, deren Ursprünge im 16. Jahrhundert liegen, die politischen Institutionen der "aristodemocracy" (82), die Bevölkerung und das Theater skizziert. Hinzu kommt eine Beschreibung des problematischen Verhältnisses zwischen Rousseau und Genf. Im 18. Jahrhundert prägten Spannungen zwischen der Oberschicht, den "citoyens" und "bourgeois", und der rechtlich deutlich benachteiligten Mehrheit der "natifs" das Leben in der Stadt, die offiziell eine Republik, faktisch aber eine Oligarchie war.
Das anschließende vierte Kapitel "Luxury and Corruption" konfrontiert Rousseaus Ablehnung des Luxus mit der "Doux commerce"-Theorie. Zu den namhaftesten Vertretern der These, dass Luxus dem Staate nutze, weil er Handel und Gewerbe fördere, gehörten Bernard Mandeville und Montesquieu. Der zivilisatorische Charakter des Luxus war im Frankreich des 18. Jahrhunderts keineswegs unumstritten. Dies zeigte sich in der Luxus-Debatte, die in den 30er-Jahren entbrannte. Rousseau, der wohl erkannte hatte, dass kein Weg mehr zu den archaischen Zeiten zivilisationsferner Natürlichkeit zurück führte, sich aber weigerte, dies zu akzeptieren, bezog eindeutig Stellung: "le luxe ne sçauroit regner dans un ordre de Citoyens" (104). Rousseau sah sein Ideal einer egalitären Gesellschaft durch den Luxus (und auch durch das Theater) gefährdet, der maßgeblich zum Verfall der ethischen Grundlagen der Gesellschaft und des Staates beitrug. Diese von Rousseau verworfene, positive Bewertung des Luxus manifestierte sich in einem neuen Leitbild, dem verweichlicht-passiven, effeminierten und dekadenten "citoyen commerçant". Rousseau hingegen favorisierte das Ideal des männlichen "virtuos citizen-warrior", dessen Profil ganz dem klassischen republikanischen Ideal entsprach: "the demand for equality, the ideal of frugality, the notion of active liberty and the demand for self-sacrifice" (195). Den geeigneten Rahmen für Gleichheit und Wohlstand bot für Rousseau das einfache Leben, eine Vorstellung, die auch dem klassischen Republikanismus vertraut war.
Mit der Charakterisierung des Bürgers als Patriot setzt sich das fünfte Kapitel auseinander, das Rousseaus Republikanismus und seinen Platz in der republikanischen Tradition untersucht. Dies geschieht mittels eines Vergleiches zwischen den Ideen Rousseaus und den divergierenden Auffassungen des Abbé Coyer und des Chevalier d´Arcq über das Engagement des Adels im Handel. Fünf Unterkapitel gehen dem Lebensrecht des einzelnen Bürgers, dem Königsmord, dem Gegensatz von Krieg und Handel sowie zeitgenössischen französischen Auffassungen vom Patriotismus nach. In diesem Zusammenhang wird die enge Verbindung zwischen Rousseaus Konzept von "la patrie" und der Freiheit deutlich - Heimat- und Freiheitsliebe fallen im Werk republikanischer Autoren häufig zusammen. Der Cäsarmörder Brutus wurde in diesem Kontext als gängiges Beispiel angeführt.
Was haben eine Katze, eine Göttin mit zerbrochenen Ketten und ein offener Vogelkäfig mit Rousseau gemeinsam? Das sechste Kapitel thematisiert das Problem der Freiheit, die zu den zentralen Bestandteilen des Republikanismus gehört und eng mit dem Ideal der Volkssouveränität beziehungsweise Autonomie verknüpft ist - die genannten Symbole stehen für die Freiheit, die als Unabhängigkeit zentrale Bedeutung für Rousseau besaß. Im Anschluss an eine Skizzierung des Freiheitsbegriffs des "classical republicanism" erläutert die Autorin die Möglichkeiten der politischen Partizipation. Freiheit birgt in sich auch die Möglichkeit zum Missbrauch, der zum Niedergang der Moral und der Sitten führt - "republikanische" Freiheit meint so eine "tugendhafte" Freiheit, die mit Egoismus und Faulheit kontrastiert.
Eine abschließende, relativ kurze conclusion fasst die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung zusammen. Kylmäkoski betont hier nochmals Rousseaus Verbindung zur klassischen republikanischen Tradition und die Übereinstimmungen zwischen dem französischen und englischen Republikanismus. Zugleich verdeutlicht sie aber auch die Grenzen des Begriffs: Trotz einer gemeinsamen Terminologie und identischer Ziele und Werte favorisierten die "classical republicans" unterschiedliche Wege. Dies wird am Beispiel des Handels deutlich.
Insgesamt arbeitet die Autorin den Bürgerbegriff Rousseaus und das alternative Bürgermodell des citoyen commerçant überzeugend heraus. Man hätte sich allerdings eine etwas stärkere Plastizität der Darstellung und eine gefälligere Verarbeitung des Materials gewünscht.
Stefan W. Römmelt