Rezension über:

Alfred Reckendrees: Das 'Stahltrust'-Projekt. Die Gründung der Vereinigte Stahlwerke AG und ihre Unternehmensentwicklung 1926 - 1933/34 (= Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte; Bd. 5), München: C.H.Beck 2000, 639 S., 51 Tabellen, 24 Grafiken, ISBN 978-3-406-45819-4, EUR 72,00
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Chungki Song
Seoul National University
Redaktionelle Betreuung:
Michael C. Schneider
Empfohlene Zitierweise:
Chungki Song: Rezension von: Alfred Reckendrees: Das 'Stahltrust'-Projekt. Die Gründung der Vereinigte Stahlwerke AG und ihre Unternehmensentwicklung 1926 - 1933/34, München: C.H.Beck 2000, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 12 [15.12.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/12/2135.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Alfred Reckendrees: Das 'Stahltrust'-Projekt

Textgröße: A A A

Die Gründung der Vereinigten Stahlwerke A.G. erhielt ihre Bedeutung über den engen Rahmen einer Firmengeschichte hinaus wegen des großen Gewichts und der beachtlichen Rolle, die dieses Unternehmen in der deutschen Wirtschaft spielen sollte. Über die Auswirkungen der Fusion von vier Großunternehmen im Ruhrgebiet auf die ökonomischen Rahmenbedingungen und die verhängnisvolle Entwicklung der Weimarer Wirtschaft wurde bereits viel diskutiert. Zum anderen bildete die Konzerngründung der Vereinigten Stahlwerke auch eine Zäsur in der deutschen Unternehmensgeschichte. Müssen die Vereinigten Stahlwerke als ein Prototyp des schwerindustriellen deutschen Konzerns oder wegen ihrer organisatorischen Entwicklung zum multi-dimensionalen Konzern als ein Musterbeispiel der "Amerikanisierung" des deutschen Unternehmens (Alfred D. Chandler) betrachtet werden? Trotz dieses großen Interesses an den Vereinigten Stahlwerken ist eine Untersuchung über die Konzerngründung selbst allerdings bislang ein Desiderat in der Forschung geblieben. Diese Lücke wird durch die grundlegende Studie von Reckendrees geschlossen, in deren Zentrum die Gründungsverhandlungen, die Unternehmensentwicklung bis 1934 und die betriebswirtschaftlichen Resultate dieser Großfusion stehen.

Um die Konzerngründung nicht nur aus einer Teilperspektive zu betrachten und sie in den Mittelpunkt der Untersuchung zu rücken, zieht Reckendrees zunächst neue theoretische Ansätze heran. Dabei verzichtet der Autor bewusst auf eine Einordnung seines Untersuchungsgegenstandes "in die abstrakte Modellwelt ökonomischer Theorien" (29). Nach einer kritischen Diskussion der herkömmlichen ökonomischen Theorien und Unternehmensbegriffe kommt der Autor zu dem Schluss, dass die Analyse und Interpretation der Konzerngründung dem wechselseitigen Prozess von Anpassung und Gestaltung Rechnung tragen sollte, anstatt sie als in einem allgemeinen Wirtschaftsverlauf determiniert zu betrachten. Dabei seien Unternehmen nicht etwa als abstrakte Produktionsfunktionen zu verstehen, sondern könnten "nur als Objekt und Subjekt ökonomischer und sozialer Veränderungen" (36) behandelt werden. Auf einem solchen Ansatz basierend werden in der Studie nicht nur die konkreten Handlungen der unternehmerischen Akteure, sondern auch die wirtschaftlichen Zwangslagen und Handlungsspielräume der deutschen Stahlindustrie in der Zwischenkriegszeit mit in die Betrachtung einbezogen. Davon wird das Darstellungsverfahren geleitet, das der Autor als "dichte Beschreibung" (43) kennzeichnet.

Reckendrees legt in den Kapiteln II und III einleitend die ökonomischen und technischen Voraussetzungen der Konzernbildung vor und nach dem Ersten Weltkrieg sowie die besonderen wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen in den Jahren 1924/5 für die endgültige Formierung der Vereinigten Stahlwerke dar. Die Konzentrationsbewegung der Expansionsphase in der Vorkriegszeit zeichnete sich durch eine "offensive Strategie" aus, wobei technische und organisatorische Innovationen wie das "gemischte Werk" die Produktivität kontinuierlich zu steigern halfen. Nach dem Krieg veränderten sich aber die Rahmenbedingungen für einen möglichen Zusammenschluss grundlegend: Der Verlust der Rüstungsaufträge und die Reduzierung der staatlichen Investitionsprogramme gingen mit abgeschwächten Absatzmöglichkeiten einher. In dieser Situation hielten es die Stahlindustriellen für angebracht, die Produktionskapazitäten auf ein Maß zu reduzieren, das den bestehenden Absatzmöglichkeiten entsprach. Hierfür brauchte man aber nicht mehr Kartelle, sondern neue Formen des Zusammenschlusses, die den Ausgleich zwischen Produktion und Absatz ermöglichten. Insofern sind die Vereinigten Stahlwerke ein Produkt der in der Inflationskrise entwickelten "negativen" Strategie.

In Kapitel IV geht Reckendrees auf die Verhandlungen zur Gründung der Vereinigten Stahlwerke ein, wobei solche Zusammenschlüsse von der damaligen Öffentlichkeit als Ausdruck des Zeitgeistes wahrgenommen wurden. Auf Grund der detaillierten, sich auf Primärquellen stützenden Analyse entwirft der Autor ein differenzierteres Bild. Bei der Fusion der Vereinigten Stahlwerke spielte weder die amerikanische Anleihe noch, wie bisweilen behauptet wurde, die Steuergesetzgebung eine entscheidende Rolle (vielmehr war der Zusammenschluss für die amerikanischen Kapitalanleger attraktiv und führte zu einer Änderung der geltenden Steuergesetzgebung), sondern das Interesse der Eigentümer und Aktionäre der Ruhrkonzerne, das investierte Kapital trotz der Krise zu erhalten. Die Sanierungsbereitschaft, die die Verhandlungspartner anfangs zeigten, verringerte sich im Laufe der Verhandlungen. Insofern lässt sich die These, dass die Vereinigten Stahlwerke als "Rationalisierungsgemeinschaft" gegründet wurden, nur mit starken Einschränkungen aufrechterhalten (275). Die Banken waren als Aktionäre an der Sicherung ihrer Kapitalbeteiligung interessiert und griffen doch während der Verhandlungen nicht ein.

Eine umfassende Bilanz der Konzerngründung ist durch die Beschäftigung mit den Verhandlungsabläufen allein nicht zu erstellen. Deshalb befasst sich der Autor in den drei darauf folgenden Kapiteln (V, VI, VII) mit der Entwicklung bis zum Jahre 1934 und den Ergebnissen der Fusion. Dabei wird auf zwei Aspekte besonders eingegangen: auf die organisatorische Entwicklung einerseits und die Wirtschaftlichkeit des neuen Unternehmens andererseits. Wie bei anderen, lässt auch Reckendrees' Analyse der Unternehmensorganisation zwei verschiedene Perioden erkennen. Seiner Meinung nach ist die erste jedoch durch eine relative Zentralisierung der Verwaltung gekennzeichnet, wobei die einzelnen Werke im Großen und Ganzen ihre auf die Produktion und den Absatz bezogenen Verwaltungsaufgaben behielten. Das Ziel der zweiten Periode war nicht die Dezentralisierung, wie andere meinen, sondern eine dezentrale beziehungsweise multipolare Zentralisierung. Die Düsseldorfer Vereinigte Stahlwerke A.G.- Hauptverwaltung behielt weitgehend die Entscheidungskompetenz, während die neu zusammengefassten Betriebsgruppen die Produktionskontrolle und Koordinationsfunktionen übernahmen. Dadurch gelang es den Vereinigten Stahlwerken, eine neue, in Deutschland weitgehend vorbildlose, multi-divisionale Unternehmensorganisation einzurichten (452), die über eine potenziell große Flexibilität und Anpassungsfähigkeit verfügte.

Auf die Frage nach der Wirtschaftlichkeit der Vereinigten Stahlwerke in dem relativ kurzen Zeitraum bis Mitte der 30er-Jahre zu antworten ist wegen der damals turbulenten Wirtschaftslage nicht leicht und nur im Vergleich mit anderen, konkurrierenden Stahlkonzernen möglich. Für die Erfolge des Unternehmens kam erhebliche Bedeutung einem größeren Rationalisierungspotenzial zu, das sich aus dem branchenweiten Zusammenschluss ergab. Nach Prinzipien der economies of scale konnten Produktionsprogramme der beteiligten Unternehmen neu organisiert und Werksanlagen modernisiert werden, sodass die Produktivität erhöht und die Stückkosten gesenkt wurden. Die produktionsbezogenen Rationalisierungsmaßnahmen kamen aber wegen der Entwicklung der Produktionstechnik nur eingeschränkt zur Geltung. Dabei wirkte sich die nur kapazitätswirksame "negative" Lösung der Vereinigten Stahlwerke wegen der prekären Absatzmöglichkeiten der Stahlindustrie, insbesondere wegen fehlender Massenproduktion, nur wenig aus. Von Interesse ist auch die Einschätzung Reckendrees', "dass der «Stahl-Trust» nicht nur ein Rationalisierungs-, sondern gleichermaßen ein Sanierungsprojekt war" (589), ein Ziel, das zu einer deutlichen Überforderung des Unternehmens führte und erst 1933 bis 1936 erreicht wurde.

Die auf umfangreiches Quellenmaterial gestützte Untersuchung, die 1999 mit dem 1. Preis für Unternehmensgeschichte ausgezeichnet worden ist, lässt dennoch viele Fragen offen, auf die andere Untersuchungen Antwort geben müssen. Wenn man die Auffassung vertritt, dass ein branchenweiter Zusammenschluss eine effektivere Krisenanpassung ermöglicht hätte, bleibt zu prüfen, ob (und, wenn ja, weshalb) sich die anderen Unternehmen, etwa die aus dem Zusammenschluss ausgestiegene Krupp A.G. und die dazu von vornherein nicht eingeladene GHH, trotz des Drucks der starken Konkurrenz mit den Vereinigten Stahlwerken so gut behaupten konnten. Und wenn das Problem des nach wie vor stagnierenden Absatzes und der fehlenden Nachfrage für eine Massenproduktion, das erst durch die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik behoben wurde, nicht gelöst worden wäre, stellt sich die Frage, ob nicht auch andere, nicht auf die Produktion oder den Absatzmarkt bezogene Rationalisierungsmaßnahmen denkbar gewesen wären - etwa die "soziale Rationalisierung" -, um die Wirtschaftlichkeit der Unternehmen in der Krisenzeit zu erhöhen.


Chungki Song