Christian Baechler: L'Aigle et l'Ours. La politique russe de l'Allemagne de Bismarck à Hitler 1871-1945 (= L'Europe et les Europes. 19e et 20e siècles; Bd. 1), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2001, X + 437 S., ISBN 978-3-906767-07-9, EUR 60,30
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Historikern gelingen selten längere lesbare Synthesen; dieses Buch ist eine der Ausnahmen. Der Straßburger Historiker Christian Baechler versucht, die deutsche Europapolitik - nicht nur die Russlandpolitik, wie der Titel verheißt - in einem großen Wurf darzustellen. Die Außenpolitik des Deutschen Reiches zwischen Frankreich und Großbritannien einerseits, Russland andererseits, mit einer Art Nebenrolle für die Habsburgermonarchie, stellt sich als eine Mischung politischer Strategien und ihres jeweiligen Scheiterns dar. Die Strategien wurzeln für Baechler in einem fundamentalen Unsicherheitsgefühl des neuen Staates in der europäischen Mittelposition, aus der sich das Reich, die Bedrohung seiner Flanken fürchtend, in eine Verbindung mit Wien flüchtete. Die Bedrohung versuchten Bismarck im Bündnis mit Russland, Bethmann Hollweg mit Großbritannien (gegen Frankreich) und Stresemann in einem Kollektivbündnis zu minimieren. Existenzängste beherrschten das Denken, die Deutschland in Kriegen (par un activisme risqué) zu kompensieren wünschte. Russland spielte dabei eine Doppelrolle: als Bedrohung, aber auch als sich anbietender Expansionsraum. Mit ihm verband man Phobien und Hoffnungen. Hier führte dann Deutschland im Zweiten Weltkrieg seine guerre pour l'utopie, so eine der Kapitelüberschriften.
Mit diesen einfachen Strukturen analysiert Baechler die deutsche Außenpolitik - durchaus als politische Geschichte, aber eben auch als ein scheinbar mechanisch funktionierendes Regelwerk und - trotz manchen Hinweisen auf innenpolitische Befunde - unter einem klassisch und anachronistisch streng anmutenden Primat der Außenpolitik, das man von einem Mitherausgeber der Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik (ADAP) wohl auch erwartet. Da nimmt es nicht wunder, dass der Autor kaum Zweifel kennt. Das Regelwerk entfaltet sich sehr eindeutig und überzeugend, Forschungs- und Interpretationsprobleme werden nicht thematisiert - allein bei der Behandlung der nationalsozialistischen Judenvernichtung schildert Baechler die Positionen von Intentionalisten und Funktionalisten, ohne sich zwischen ihnen eindeutig zu entscheiden.
Diese (auch sprachlich) souveräne Narration zu lesen ist ungewohnt. Denn keineswegs ist wirklich alles so klar, wie es hier scheint, nicht immer sind die Motive so unumstritten, wie Baechler sie darstellt. Und auch die innenpolitische und ökonomische Komponente weitgehend auszuklammern, fordert zu mentalem Widerstand heraus. Aber dennoch: Der Unterschied zu schnell hingeworfenen Übersichten, wie wir sie ja auch kennen, besteht in der Solidität der Quellenbasis (in der es nichts Neues zu entdecken gibt) und der gelungenen Distanziertheit des Autors.
Frank Golczewski