Rezension über:

Beate Althammer: Herrschaft, Fürsorge, Protest. Eliten und Unterschichten in den Textilgewerbestädten Aachen und Barcelona 1830-1870 (= Veröffentlichungen des Instituts für Sozialgeschichte e.V. Braunschweig - Bonn), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2002, 660 S., ISBN 978-3-8012-4125-4, EUR 66,00
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Rezension von:
Marc Engels
Lehr- und Forschungsgebiet Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule, Aachen
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Marc Engels: Rezension von: Beate Althammer: Herrschaft, Fürsorge, Protest. Eliten und Unterschichten in den Textilgewerbestädten Aachen und Barcelona 1830-1870, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2002, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 1 [15.01.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/01/2822.html


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Beate Althammer: Herrschaft, Fürsorge, Protest

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Am 31. August 1830 randalierten Aachener Textilarbeiter und -arbeiterinnen im Wohnhaus des ehemaligen Maschinenfabrikanten James Cockerill und verprügelten mehrere Polizisten und Soldaten, bis die eilends mobilisierte Bürgergarde die Revolte mit Waffengewalt niederschlug. Fast genau fünf Jahre später zerstörte eine aufgebrachte Menschenmenge in Barcelona die modernste Textilfabrik Spaniens, tötete einen General und mehrere Ordensgeistliche. Zwei Tage später endete die Niederschlagung des Aufruhrs mit der standrechtlichen Exekution mehrerer vorgeblicher Anstifter.

Diese beiden Unterschichtenrevolten fokussiert Beate Althammer, um "Herrschaft, Fürsorge und Protest" in den zwei westeuropäischen Städten zwischen 1830 und 1870 zu untersuchen. Dabei fragt die Verfasserin nach der Bewältigung der durch die Frühindustrialisierung hervorgerufenen gesellschaftlichen und ökonomischen Spannungen in den beiden Textilgewerbestädten, mit dem Ziel, Strukturen herauszuarbeiten, die "Konfliktivität respektive Stabilität" (30) von städtischen Gesellschaften beeinflussen.

Für ihre im Trierer Graduiertenkolleg "Westeuropa in vergleichender historischer Perspektive" entstandene Dissertation hat Althammer die komparative Perspektive gewählt, da diese die "Verbindung zwischen Mikro- und Makrogeschichte" (24) herstelle. Dieser Ansatz erlaube es, in einer Anordnung mit "experimentelle[m] Charakter" (30) über die engere Lokal- oder Nationalgeschichte hinaus weitergehende Aussagen über den "politisch-kulturellen Kontext" (30) elitärer Herrschaft zu treffen. Da gerade dieser Themenkomplex im Mittelpunkt steht und nicht die Suche nach den sozioökonomischen Ursachen sozialen Protestes - wie es der Vergleichszeitraum auf den ersten Blick nahe legt -, hat die Verfasserin zwei Städte ausgesucht, denen sie "analoge[...] sozioökonomische[...] Strukturen und Lagen" (30) zuschreibt.

Wie sieht es nun mit dieser Analogie aus? Denn der Ertrag des historischen Vergleichs steht und fällt mit der Auswahl der Untersuchungsobjekte. Als - jedenfalls den Rezensenten - überzeugende Kriterien nennt die Verfasserin sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede: Beide Städte seien erstens führende textilindustrielle Zentren und "Vorreiter der Moderne" in ihrem Staatsgebiet gewesen. Sie wiesen zweitens ein ähnlich hohes Bevölkerungswachstum auf und verfügten drittens über eine lange Tradition als Wirtschaftszentren mit selbstbewussten Eliten. Viertens seien beide Städte katholischer Konfession, fünftens lägen sie jeweils an der Peripherie. In Bezug auf die soziale Stabilität hingegen unterschieden sich Aachen und Barcelona erheblich: Während sich ähnliche Unruhen wie die von 1830 in Aachen nicht wiederholten, ja sich die Stadt geradezu zum "Extremfall" (29) gesellschaftlicher Stabilität entwickelte, gab es ähnliche Aufstände in Barcelona mit erstaunlicher Regelmäßigkeit. Die Erklärung dieser Entwicklung treibt letztlich die Arbeit Beate Althammers voran.

Den ersten Teil ihres Buches widmet Althammer den "Schauplätzen und Akteuren", indem sie die Städte selbst, die Wirtschaftsstrukturen, Ober- und Unterschichten, analysiert. Es entstehen knappe, jedoch plastische Wirtschafts- und Sozialgeschichten der beiden Orte, die in ihren Unterschieden und Gemeinsamkeiten vorgestellt werden. Insbesondere die Elitenstrukturen zeigen auffällige Differenzen: In Aachen bildeten Fabrikanten eine sehr homogene politische und ökonomische Führungsschicht, die sich zudem durch kontinuierlichen Machtbesitz auszeichnete. Demgegenüber war die Oberschicht Barcelonas ausgesprochen heterogen: Einerseits spielte der Adel eine gewichtigere Rolle als die Fabrikanten, andererseits spalteten politische Gräben die Eliten. Gleichzeitig agierten die Führungsschichten unter grundlegend unterschiedlichen politischen Rahmenbedingungen: Während Preußen eine außerordentliche politische Stabilität aufwies, war das politische System Spaniens äußerst unbeständig.

Im zweiten Teil ihrer Arbeit analysiert Althammer die Revolten, ihre Ursachen und vor allem die Reaktionen. In Aachen kam es bei der Niederschlagung des Aufstandes zum Schulterschluss zwischen lokalen Eliten und preußischer Verwaltung; eine Verbindung, die sich durch das bürokratisch-rationale Prozedere, die unnachgiebige Bestrafung von 52 Beteiligten und die Verleihung von Orden an die Bürgerwehr verfestigte. In Barcelona hingegen zeigte die Reaktion auf die Revolte die Uneinigkeit der Oberschicht, von der Teile glaubten, die Unruhen für ihre politischen Ziele einsetzen zu können. Hier entschloss man sich erst beim Wandel von der politischen zur sozialen Revolte zu gewaltsamen Gegenmaßnahmen. Auf Grund dieser Schwäche entfalteten die fünf Todesurteile des spanischen Militärgerichts keine langfristig abschreckende Wirkung, während das in Preußen angewandte Verfahren die sozialen Beziehungen Aachens langfristig beeinflusste.

Die Stadteliten reagierten jedoch nicht nur mit Kriminalisierung und Ausgrenzung auf die Herausforderungen, welche die Revolten darstellten, sondern sahen sich zu Konzessionen gezwungen, um die sozialökonomischen Konflikte zumindest partiell zu entschärfen. Die Oberschicht der rheinischen Grenzstadt verfolgte eine obrigkeitlich-fürsorgliche Strategie, während Zugeständnisse an die Arbeiterschaft, die sich von Rationalisierung und Lohnkürzungen bedroht sah, ausblieben. In der Oberschicht der spanischen Hafenstadt hingegen setzte sich ein tolerantes Konzept durch, da der Arbeiterschaft unter anderem Schutz vor willkürlichen Lohnabzügen und Rationalisierungsmaßnahmen gewährt wurde. Im diametralen Gegensatz zu Aachen entwickelte sich der Aufstand in Barcelona somit zum Erfolg, der das Klassenbewusstsein der Arbeiterschaft stärkte. Die Aachener Arbeiterschaft war im Gegensatz dazu zur organisierten, selbständigen Artikulation ihrer Interessen während des Untersuchungszeitraumes unfähig.

Im letzten Teil der Arbeit überprüft Beate Althammer die Wirkung der durch die unterschiedlichen Strategien erreichten gesellschaftlichen Stabilität anhand der Cholera- und Gelbfieberepidemien zwischen 1833 und 1870. Die Bedingungen für Stabilität liegen, und dies bildet den Ertrag dieser höchst anregenden Studie, im gleichen Maße innerhalb wie außerhalb der städtischen Gesellschaften. Die örtlichen sozialen Beziehungen reflektieren den politischen und ökonomischen Rahmen ihres Umfeldes. Homogenität und politische Geschlossenheit der städtischen Eliten können sich als Vorbedingung autoritär-stabiler Beziehungen nur durch die Unterstützung der staatlichen Exekutive etablieren und halten. Ist dieser Bund zwischen lokalen und nationalen Führungsschichten erst einmal geschlossen und stimmen die Herrschaftskonzepte überein, kann eine unangefochtene stabile und repressive Dominanz erreicht werden. In einem heterogenen und unbeständigen politischen Umfeld kann es der lokalen Oberschicht nicht gelingen, eine ähnlich dominante Position zu erreichen. Auch hier bildet sich ein Gleichgewicht, das aber wesentlich dynamischer ist und in mancher Hinsicht auf gleichberechtigter Interaktion und Toleranz, jedoch auch auf Gewalt beruht.

Beate Althammer hat auf der Grundlage zahlreicher deutscher und spanischer Archivmaterialien eine ausgesprochen gut lesbare, systematische und anregende Dissertation vorgelegt. Der einzige Kritikpunkt trifft weniger die Verfasserin als vielmehr die Produktionsabteilung des Verlages: Die Grafiken sind teilweise von so schlechter Qualität, dass der Gebrauchswert eingeschränkt ist. Teils ist es unmöglich, Legenden zu erkennen beziehungsweise zwei Grafen auseinander zu halten. An dieser Stelle hat jemand offenbar vor den technischen Problemen, die beim Druck von Abbildungen entstehen, kapituliert. Angesichts des hohen Preises des Buches wäre hier mehr Sorgfalt angemessen gewesen.

Die Ergebnisse der Arbeit erlauben weitgehende Schlüsse über die Ursachen der höchst unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Entwicklung Deutschlands und Spaniens bis in das 20. Jahrhundert. Das Buch geht deshalb in seiner Bedeutung weit über die Lokalgeschichte hinaus. Durch die Vielzahl der untersuchten und systematisch verglichenen Aspekte ist es für jeden, der sich mit der Wirtschafts-, Sozial-, Geschlechts- und Gesundheitsgeschichte der Frühindustrialisierung beschäftigt, von Interesse.


Marc Engels