Annekatrin Schaller: Michael Tangl (1861-1921) und seine Schule. Forschung und Lehre in den Historischen Hilfswissenschaften (= Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte; Bd. 7), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2002, 386 S., ISBN 978-3-515-08214-3, EUR 68,00
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Die Selbstreflexion der Geschichtswissenschaft hat Konjunktur. Viele Disziplinen machen sich deshalb an ihre wissenschaftshistorische Aufarbeitung in disziplinären und institutionengeschichtlichen Arbeiten. Annekatrin Schaller legt eine biografische Arbeit vor, die ein Verdichtungsfeld in der Entwicklung der Historischen Hilfswissenschaften zwischen 1880 und 1920 beschreibt. Methodisch zurückhaltend orientiert sich die Arbeit an der Chronologie der wissenschaftlichen Arbeit Tangls, wie sie aus dessen Publikationen und Briefen sowie denen seiner Kollegen, aus den Akten der MGH, der preußischen Archivschule und der Universitäten ermittelt werden kann.
Michael Tangl war Österreicher. Begabte Historiker dieses Landes geraten beinahe von selbst an das "Institut", das heißt das Institut für Österreichische Geschichtsforschung (IÖG), das spätestens seit Theodor von Sickel von den Hilfswissenschaften dominiert ist. Seine Funktion als Ausbildungsstätte für Archivare stärkt diese Dominanz. So ist auch Michael Tangl an das Institut gekommen und hat dort das scharfe Werkzeug des Historikers zu benutzen gelernt. Die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts sind noch geprägt von Theodor von Sickel, der die Methodik der Urkundenkritik um den umstrittenen aber fruchtbringenden Diktatvergleich erweitert hat. Diese anspruchsvolle Methodik hatte ebenso wie die Persönlichkeit Sickels die österreichische quellenkritische Forschung deutlich gegenüber der im kleindeutschen Reich vorherrschenden Beschäftigung mit erzählenden Quellen profiliert. Dieses Profil übertrug sich auch auf Tangl. Nach seiner Promotion 1889 über das päpstliche Taxwesen im späten Mittelalter arbeitete er zunächst im Archiv des Innenministeriums und des Finanzministeriums. Seine erste Professur erlangte er 1895 als Vertreter der modernen diplomatischen Schule Sickelscher Prägung in Deutschland. Auch bei seiner Berufung nach Berlin im Jahr 1897 wurde Tangl als Vertreter der Sickel'schen Schule der Diplomatik angesehen und sollte so zur Modernisierung der Historischen Hilfswissenschaften in der Hauptstadt beitragen. Schallers Biografie hinterlässt den Eindruck, dass Tangl bei seinen Berufungen eine methodische Position in der deutschen Geschichtswissenschaft zugewiesen wurde, die sich alleine aus seinem Werk heraus nicht erklären lässt. Leider reflektiert sie den Zusammenhang zwischen Wissenschaftsorganisation und Schulenbildung nicht weiter.
Die Verbindung zwischen archivarischer Ausbildung einerseits sowie Forschung und Lehre in den Historischen Hilfswissenschaften andererseits hat der Disziplin geholfen, sich zu etablieren. Sie hat ihr aber auch geschadet, als die Archive die Ausbildung ihres Nachwuchses von den Universitäten in eigenständige Einrichtungen überführten. Tangl, der auch immer wegen seiner archivarischen Tätigkeit berufen worden war, hatte sich und die Hilfswissenschaften nun im historischen Fächerkanon so zu etablieren, dass sie mit der breiteren Öffentlichkeitswirksamkeit der Fachkollegen der allgemeinen Geschichte konkurrieren konnten. Schallers Darstellung zu Folge leistete Tangl dazu seinen Beitrag, indem seine freundliche Persönlichkeit auch Studenten in seine Seminare lockte, die nicht von der Berufsperspektive 'Archivar' angezogen waren.
Schon der Titel der Biografie verweist auf diese Schüler Tangls. Schaller widmet der Tangl-Schule mit einer fast 50-seitigen Prosopografie der von Tangl als Erstgutachter betreuten Dissertationen, einer Liste der Doktoranden, bei denen dieser das Koreferat übernommen hatte und einem eigenen Kapitel über dessen Schule breiten Raum. Aus der beeindruckenden Dokumentation von Personen, die sich auf Tangl als ihren Lehrer beziehen und die durch dessen universitäre Lehre in das wissenschaftliche Leben eingeführt wurden, schält sich nur eine sehr undeutliche inhaltliche Kontur heraus.
Dass sich darunter zahlreiche Kirchenhistoriker und Archivare befinden, zeugt mehr von den persönlichen Interessensschwerpunkten Tangls. Schaller charakterisiert seine Wirkung dementsprechend als stark von seinen aktuellen Forschungsinteressen geprägt und hebt die Fähigkeit der Tangl-Schule hervor, "rasch und zielgenau" reagieren zu können (283). Die Genauigkeit der Quellenkritik und die Verbindung von historischem und diplomatischem Wissen sind der gemeinsame Nenner, auf den sich Arbeiten über tironische Noten, über das Leben des Heiligen Bonifatius, kirchliche Kanzleigeschichte des späten Mittelalters und vielfältige Übersetzungen und Editionsarbeiten zusammenführen lassen.
Das Konzept des "Archivs für Urkundenforschung", das er 1905/08 zusammen mit Karl Brandi und Harry Bresslau begründete, entspricht vermutlich am ehesten dem wissenschaftlichen Konzept Tangls: Forschungen über und mit Urkunden sollte die Zeitschrift dokumentieren. Sie diente Tangl dazu, Arbeiten seiner Schüler zu publizieren, ohne sich intensiv an den organisatorischen Aufgaben der Herausgeberschaft zu beteiligen.
Es ist ein Verdienst von Schaller, dass sie allgemeine wissenschaftshistorische Entwicklungen in ihre Biografie mit einbezieht. So findet man in der Arbeit Exkurse über die Geschichte des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, über die Historischen Hilfswissenschaften in Marburg und Berlin, die Archivarsausbildung ebenda und die Monumenta Germaniae Historica. Alle diese Einrichtungen stehen in enger Verbindung mit Tangls Lebenslauf: Nach der Ausbildung am Institut verdankte er seine römische Zeit (1887-1889) der Vermittlung Sickels. In Marburg und Berlin bekleidete er die Professuren für Historische Hilfswissenschaften. An beiden Orten wirkte er in dieser Funktion an der Ausbildung der Archivare mit und versuchte auch, seinem Charakter entsprechend sehr vorsichtig, die organisatorischen Entscheidungen über die Archivarsausbildung mitzugestalten. Für die Monumenta Germaniae Historica erarbeitete Tangl verschiedene Editionen, verteidigte die Organisation gegen Angriffe aus dem akademischen Betrieb und übernahm kommissarisch ihre Leitung während des Ersten Weltkriegs - auch wenn ihn diese Tätigkeit wegen seines organisatorischen Ungeschicks nicht gerade auszeichnete.
Schallers Arbeit zeigt auch, dass wissenschaftliche Auseinandersetzungen der Historikerzunft für Tangl eine geringere Bedeutung hatten als die Institutionen, an denen er arbeitete. So sehr er auch immer versuchte, historisches Wissen bei der Urkundenkritik in die diplomatische Arbeit einzubringen und die Ergebnisse diplomatischer Arbeit für historische Fragen fruchtbar zu machen, wie bei seinen Bonifatiusforschungen und den Arbeiten über die Osnabrücker Fälschungen, so waren Tangl dennoch methodische Reflexionen und die Fragen nach Menschenbild und Gesellschaftsverständnis historischer Arbeit fern. Die Feinheiten diplomatischer Methode erschienen im Leben des Forschers als elementare Entscheidungen, wie nicht zuletzt seine von den Fachkollegen hoch geschätzte Spezialkompetenz im Bereich der tironischen Noten zeigt.
In vielen Fragen rückt Schaller Tangls menschliche Seite in den Vordergrund. Die politischen Entwicklungen während seines Lebens haben ihn persönlich stärker getroffen, als er an ihnen Teil gehabt hätte: Gesellschaftlich aktiv war er nur im deutschen Schulverein. Nicht einmal in der großen Kriegseuphorie unter den deutschen Akademikern zu Beginn des Weltkrieges finden sich Spuren Tangls. Dagegen kann der allgemeine Antikatholizismus, mit dem seine Berufung nach Berlin in der Öffentlichkeit kommentiert wurde, als ein Grund dafür verstanden werden, warum er sich in Berlin nie wirklich heimisch fühlte. Der Zusammenbruch des österreichischen Staates im Ersten Weltkrieg rührte an seiner engen Bindung zur Heimat, die sich gerade in dieser Zeit auch in der universitären Lehre niederschlug. Die Aufgaben, die ihm aus den unsicheren Zuständen des Ersten Weltkrieges zuwuchsen, belasteten Tangl ebenso wie die schlechte Versorgungslage, sodass er psychisch darunter zusammenzubrechen drohte.
Von den politischen und persönlichen Niederlagen in der Zeit des Ersten Weltkriegs erholte sich Tangl wieder und strahlte neuen Lebensmut und Schaffenskraft aus. Sein plötzlicher Tod im Jahr 1921 hat das Bild eines gründlichen Spezialisten hinterlassen, der mit größeren organisatorischen Aufgaben überfordert war.
Schaller versucht diesen schlechten Eindruck, den Tangl hinterlassen hat, gerade zu rücken. Dabei betont sie dessen Wirkung als Lehrer. Wie erwähnt, ist die Tangl-Schule jedoch methodisch und inhaltlich nur schwer unter einen Hut zu bringen. Die Frage, ob sie als soziales Netz funktionierte, stellt sich Schaller nicht. Tangl ist dennoch als Multiplikator hilfswissenschaftlicher Expertise einer Biografie durchaus würdig, auch wenn diese nur ein kleiner Baustein in der wissenschaftshistorischen Selbstverortung der traditionsreichen Historischen Hilfswissenschaften ist. Schaller hat diesen Baustein sauber zugeschnitten.
Georg Vogeler