Rezension über:

André Berelowitch: La Hiérarchie des égaux. La noblesse russe d'Ancien Régime (XVIe-XVIIe siècles), Paris: Éditions du Seuil 2001, 480 S., ISBN 978-2020300063, EUR 25,92
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Rezension von:
Susanne Nies
Freie Universität Berlin / CERI, Paris
Redaktionelle Betreuung:
Hermann Beyer-Thoma
Empfohlene Zitierweise:
Susanne Nies: Rezension von: André Berelowitch: La Hiérarchie des égaux. La noblesse russe d'Ancien Régime (XVIe-XVIIe siècles), Paris: Éditions du Seuil 2001, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 3 [15.03.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/03/2338.html


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André Berelowitch: La Hiérarchie des égaux. La noblesse russe d'Ancien Régime (XVIe-XVIIe siècles)

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"Mein Ziel", so schreibt Andrej Berelovitch, "war es, eine durch und durch ritualisierte Gesellschaft vorzustellen" (403).

Andrej Berelovitch, der an der Ecole Pratique des Hautes Etudes lehrt, mit bedeutenden, von Isaiah Berlin übersetzten Veröffentlichungen zur russischen Geschichte hervorgetreten ist und sich mit Studien zu imperialer Herrschaft einen Namen gemacht hat, hat zu Jahresbeginn 2001 eine neue Arbeit zur russischen Mentalitätsgeschichte vorgelegt. "Die Hierarchie unter Gleichen. Der russische Adel im Ancien Regime des XVI-XVII Jahrhunderts" stellt nichts weniger als den Versuch dar, die vermutete, immer wieder behauptete Einzigartigkeit des russischen Werdegangs nunmehr über die Sozialgeschichte herauszuarbeiten.

Berelovitch hat sich die Aufgabe gestellt, die schwierige Periode der Smuta, der Wirren, am Anfang des 17. Jahrhunderts von innen her zu erfassen. Er hat sich bewusst nicht dem Modernisierungsschub unter Peter dem Großen zugewendet, sondern jener viel weniger beachteten davor liegenden Periode. Zu Unrecht weniger beachtet, wie Berelovitch überzeugend schon mit einer knappen Zahlenreihe allein der Revolten illustriert: "Die Zeit von 1613 bis 1689", so schreibt der Autor, "ist ein dankbares Objekt, weil sie so unruhig war: mannigfache Revolten (1648, 1650, 1652, 1671-72, 1682), Kriege (1610-1618, 1632-1634, 1654-1667, 1676-1681, 1687, 1689), die Reform der Armee, die Eroberung Sibiriens und schließlich der Beginn der Verwestlichung, die ihrerseits das Schisma der Altgläubigen zur Folge hatte" (24).

Wie könnte aber methodisch diese Analyse "von innen" vollzogen werden? In Anlehnung an die große französische Tradition der Annales hat Andrej Berelovitch sich der Sozialgeschichte verschrieben. Er wendet sich der führenden sozialen Schicht zu, einer Klasse, die 15.000 bis 20.000 Männer umfasste. Es gilt nun, das Besondere an ihrem Status, an ihrer Mentalität über die zur Verfügung stehenden historischen Zeugnisse zu erfassen.

Nach einem einleitenden, ereignisgeschichtlichen Teil der über den "paradoxen Despotismus" (I) steht der "Status der Adeligen" (II) im Mittelpunkt, ihre absolute Hierarchisierung und ihr sklavenähnliches Verhältnis zur Obrigkeit. Der dritte Teil ist der Mentalität, "dem mentalen Universum des russischen Adeligen" (III) und seiner Lebenseinstellung gewidmet - der Weltsicht, einem Begriff, der sich im Russischen aus dem "mirovozzrenie" (Weltanschauung) und dem "mirooščuščenie" (Weltempfinden) zusammensetzt. Das Kapitel ist aufgefächert in Abschnitte über Hierarchie und Vorrang (271-303), die Geografie des Vorrangs (303-333), Strategien und Mentalitäten (333-355) und die Erinnerung der Clans (381-403). Insbesondere der dritte Teil überzeugt durch seine minuziöse Ausschöpfung einer Vielzahl von Quellen und Darstellungen russischer, französischer und deutscher Herkunft - so des bekannten Herberstein-Berichts von 1556. Der Autor erleichtert dem Leser den Zugang zu den entfernten Jahrhunderten und fremden Gewohnheiten durch Schaubilder und Skizzen, von der Anordnung der Leibwächter des Zaren bei Zeremonien (310) bis zur Abbildung des neuen Kreml nach Bartenev (313).

Für Berelovitch sind die Hierarchie, der Rang und die Riten das eigentlich Konstituierende dieser Führungsschicht, das sie zugleich von ihrem westlichen Pendant unterscheidet. Nicht zufällig, so resümiert er im leider zu knapp ausgefallenen Schlusskapitel (403-408), hat Peter der Große vor der Modernisierung zunächst einmal radikal mit den Riten brechen müssen: "Es ist genau die enge Bindung seiner Untergebenen an diese Bräuche, die sie für zeitlos halten [...] sowie eine andere Weise, den Raum, die Zeit, die Beziehungen zwischen Menschen, die Beziehungen zu den Institutionen, die sie regieren, zu begreifen, die die Moskowiter so radikal von ihren abendländischen Zeitgenossen unterscheidet" (403 f.).

Aberglauben und Riten charakterisieren nach Berelovitch die russische Gesellschaft. Sie haben ihm zufolge ungebrochen bis heute Bestand, sodass auch heute noch nach ihrer Beseitigung zu streben sei. Die herausragende Bedeutung von Ritualen hat nach Berelovitch in anderen Ländern keine Entsprechung: Sie ist einzigartig. Und genau hier muss die Kritik ansetzen: warum einen weiteren Mythos hinzufügen, das Besondere erneut, wenn auch auf andere Weise, verabsolutieren? Ein methodologisch unmögliches Unterfangen, insbesondere dann, wenn nur ein einziger Fall herangezogen wird. Die Fortschreibung des Okzident-Russland-Gegensatzes gehört in dieser radikalen Form selbst der Geschichte an: "Rossiju umom ne ponjat'" ("Russland kann man mit dem Verstand nicht erfassen") - hören wir es erneut - warum? Der Autor hätte sich dieses quasi-religiösen Bekenntnisses aller seiner Vorgänger getrost enthalten und sich darauf beschränken können, das relativ Besondere herauszuarbeiten, denn das ist ihm ja mit dem kreativen Ansatz der Annales-Schule und der fleißigen Aufarbeitung entlegener Quellen in herausragender Weise gelungen.

Bleibt dennoch zu hoffen, dass sich ein Verlag findet, der das Werk Berelovitchs dem deutschen Publikum zugänglich macht.


Susanne Nies