Norbert Schneider: Venezianische Malerei der Frührenaissance. Von Jacobello del Fiore bis Carpaccio, Darmstadt: Primus Verlag 2002, 173 S., 84 Farb-, 32 s/w-Abb., ISBN 978-3-89678-429-2, EUR 64,00
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Um die Mitte des 15. Jahrhunderts beginnt in Venedig eine faszinierende Transformation der Malkunst, in hohem Tempo entstehen neuartige Stilrichtungen, Gattungen, Themen und Funktionen der Bilder. Dabei wäre es, wie Norbert Schneider zu Recht anmerkt, falsch, den damaligen Gang der Entwicklung teleologisch an jenen Ausdrucksformen zu bemessen, die sich erst im 16. Jahrhundert als "genuin" venezianische "Farbmalerei" etablieren sollten. Aus einer solchen Perspektive im Rückspiegel käme nur ein Teil der älteren venezianischen Malerei zu seinem Recht. Für das 15. Jahrhundert ist vielmehr zu fragen, wie es kommt, dass eine lange Zeit sehr konservative Bildproduktion mit einem Mal derart hohe Beschleunigungsenergien entfaltet und sich zunehmend auch für den Import externer Modelle öffnet. Diese experimentierfreudige Umbruchszeit erfährt mit dem jetzt von Norbert Schneider vorgelegten Band erstmals eine konzentrierte Würdigung, wie sie auf dem deutschen Buchmarkt bislang noch nicht vertreten war. Ansprechend aufbereitet mit vielen großformatigen und meist farbigen Abbildungen von überdurchschnittlicher Qualität, richtet sich Schneiders Abhandlung an ein breiteres Publikum.
Keineswegs ist es so, dass die frühe Zeit der venezianischen Malerei in der Forschung der letzten Jahre ein Schattendasein gefristet hätte. Im Gegenteil: Sowohl die angelsächsische wie die deutsche und die italienische Kunstgeschichte hat sich mit zahlreichen Beiträgen auf diesem Gebiet engagiert, wovon nicht zuletzt auch die umfassende Bibliografie am Ende des Buches zuverlässig Zeugnis ablegt. Ein Teil der Arbeiten lässt sich unter dem Oberbegriff "Kontext" subsumieren, er interessiert sich vor allem für die materiellen Zusammenhänge, die funktionalen Rahmenbedingungen und die kulturgeschichtlichen Hintergründe der Werke (siehe insbesondere die Arbeiten von Peter Humfrey, Rona Goffen und Patricia Fortini Brown). Andere Studien widmen sich primär den spezifischen bildsprachlichen Mitteln und den ästhetischen Strategien, die in der venezianischen Malerei der Zeit zur Ausprägung kamen (exemplarisch hierfür die Untersuchungen Hans Beltings und Klaus Krügers zu Bellini, Mantegna und Antonello). Man fragt sich also, wie Schneider sich im Hinblick auf diese Forschungsschwerpunkte positioniert und ob es ihm als Nicht-Spezialisten gelingt, noch einmal ein ganz neues Bild der oben skizzierten Entwicklung zu entwerfen.
Beim Blick auf das Inhaltsverzeichnis fällt es nicht leicht, den roten Faden zu erkennen, an dem sich die Auswahl und die Anordnung der Themen des Bandes orientieren. Auf eine kaum glücklich zu nennende Weise wurde das Prinzip einer chronologischen Abhandlung der wichtigsten Künstlerpersönlichkeiten - Andrea Mantegna, Giovanni Bellini, Vittore Carpaccio und Antonello da Messina sind diejenigen, denen Schneider am meisten Platz reserviert - mit einer systematischen Betrachtung der interessantesten Bildthemen und Bildgattungen vermengt. Worum also geht es eigentlich in diesem Buch? Das selbst gesteckte Ziel lautet, den "ikonologischen Aspekt" zu erhellen, genauer: die "Denk-, Wahrnehmungs- und Empfindungsmodelle" freizulegen, als deren "visuelle Artikulationen" die untersuchten Bilder gelten dürfen (8-9). Diese anspruchsvolle Vorgabe wird im Verlauf des Buches nur begrenzt eingelöst. Bereits die angesprochene Inkonsistenz im Aufbau trägt dazu bei, immer wieder Sand ins Getriebe zu streuen und mögliche argumentative Zusammenhänge ins Stocken geraten zu lassen. Eine Gliederung nach sozialen Sphären, nach Gattungen oder Funktionen wäre dem gedanklichen Fluss des Ganzen weitaus zuträglicher gewesen. Doch auch auf Ebene der Mikrostruktur liegt einiges im Argen. Grund dafür ist die allzu traditionelle, um nicht zu sagen hausbackene Herangehensweise, die Schneider seinen Gegenständen angedeihen lässt.
Vorrangig gilt das Augenmerk des Autors der Inhaltsseite der Bilder und der Dechiffrierung all dessen, was sich mithilfe von Bibel, Physiologus, Kirchenvätern und antiker Literatur an "verstecktem Symbolismus" auf der Malfläche freilegen lässt. Diese Entschlüsselungsarbeit hat ein wenig Selbstzweckcharakter, denn weder ist es so, dass sie an irgend einer Stelle spektakuläre Funde tätigt, noch wird sie zum Ausgangspunkt für eine Deutung, die der bildlichen Komplexität der Gemälde angemessen Rechnung trüge. Beispiel "Hieronymus im Gehäus" von Antonello: Schneider räsoniert über die unterschiedliche moralische Wertigkeit der dargestellten Tiere und darüber, dass Rebhuhn und Katze als negativ konnotierte Lebewesen nach links blickten, der positiv besetzte Pfau dagegen nach rechts - wie aber passt die Hauptfigur in dieses Raster, der in Kardinalsrobe gekleidete Hieronymus, der just ebenfalls nach links blickt und damit auf die falsche Seite? Insgesamt hätte man sich hier ein wenig mehr Gespür für die ästhetischen Strategien der Bilder gewünscht - etwa für die Frage, welches Konzept von Bildlichkeit den metaphorisch aufgeladenen Heilslandschaften eines Bellini oder Mantegna zu Grunde liegt, oder nach welchen Parametern sich die Betrachteransprache der Gemälde organisiert, angefangen von perspektivischen Kunstgriffen bis hin zu aktorialen Leerstellen in Werken wie Mantegnas Pariser "Sebastian" oder Antonellos "Verkündigungsmaria" in Palermo, welche die Betrachter in die Rolle von Mitspielern des Heilsgeschehens schlüpfen lassen.
Es ist hier nicht der Ort für eine Detailkritik, die den zulässigen Rahmen dieser Rezension bei weitem sprengen würde. Stattdessen seien im Hinblick auf den eingangs genannten Forschungsstand zwei Defizite systematischer Art benannt, die Schneiders Ausführungen entscheidend beeinträchtigen. Das eine ist der eben schon angesprochene blinde Fleck des ästhetischen Diskurses der Bilder. Das andere, und gemessen an Schneiders eigener Position als Mitverfasser einer "Sozialgeschichte der Malerei" bedeutend schwerer wiegende Versäumnis ist die geradezu ostentative Missachtung jeglicher kontextueller Parameter - angesichts der Fülle an Vorleistungen, die man nur hätte zu rezipieren brauchen, eine unverständliche Unterlassung.
In der Einleitung wird der Leser unter dem Stichwort "politische Struktur" mit einigen knappen Worten zur Expansion Venedigs auf die terra ferma abgespeist, über die sozial- und kulturgeschichtliche Bühne, auf welcher die Bilder ihren Auftritt hatten, erfährt er nichts - kein Kommentar etwa zum für Venedig so wichtigen Bruderschaftswesen, zu den confraternite und ihren scuole, aber auch nicht zur zünftischen Organisation und zur Struktur der botteghe, in denen die Maler arbeiteten. Der fundamentale Mangel an Kontextualisierung der behandelten Gegenstände wird dann auch im eigentlichen Hauptteil des Buches nur sporadisch behoben. Wo die Bilder auf- und ausgestellt wurden, kurz, in welchen Funktionen sie Verwendung fanden, bleibt weitgehend im Dunkeln. Zwischen Tafeln kleineren Formats für den privaten Gebrauch und größeren in Retabelfunktion wird nicht unterschieden, der Stiftungsgedanke bleibt ebenso unterbelichtet wie die Frühform der Kunstsammlung. So mutet es nachgerade bizarr an, wenn Schneider an Bellinis "Pala Pesaro" lang und umständlich mögliche franziskanische Einflüsse diskutiert, ohne mit einem Wort zu erwähnen, dass das Werk für den Hauptaltar einer Franziskanerkirche bestimmt war.
Es liegt auf der Hand, dass historische Deutungsversuche an Bildern, die derart bindungslos im freien Raum schweben, dazu verurteilt sind, gänzlich abstrakt zu bleiben. Was ist damit gewonnen, wenn Pisanellos Naturstudien pauschal und undifferenziert auf die "damals vorherrschende philosophische Richtung des Nominalismus" zurückgeführt werden (23)? Welche Erkenntnisse können wir daraus ziehen, wenn Carpaccio einer behaviouristischen Variante der gleichen Denkströmung zugeordnet wird - "auch er ist insofern Nominalist, als er nur externalisiertes Verhalten protokolliert und dieses als Repräsentanz seelischer Prozesse ... begreift" (130)? Müssen wir Mantegnas "Taufe des Hermogenes" (Padua, Chiesa degli Eremitani) wirklich als Votum für den "Ritus der Erwachsenentaufe" lesen, nur weil die Taufhandlung entsprechend der Legende an einem Neophyten und nicht an einem Kind vollzogen wird (39)? Und wie ist es zu bewerten, wenn eine Figur, die das Gleiche tut wie das gesamte übrige Bildpersonal (der nach unten blickende Petrus auf der Pala di San Zaccaria) als "Mystiker" bezeichnet wird, der "offensichtlich einen Akzent gegen die Verweltlichung des Pontifikats unter Julius II." setzt (93)?
Fazit: Mit seinem Überblick zur Venezianischen Malerei der Frührenaissance hat Norbert Schneider einen Band vorgelegt, der hinter ähnlichen Unternehmungen des gleichen Autors leider deutlich zurückbleibt. Die konsequente Ausblendung der Kontexte macht das Werk gerade als Einführung ungeeignet, die trockene, entschieden zu wenig redigierte und häufig unnötig verklausulierte Schreibweise bietet kaum Anreize, die Lektüre bis zum Ende durchzuhalten. Allen inhaltlich Interessierten sei daher weiterhin die Mühe empfohlen, die überaus lesenswerten Einzelpublikationen der neueren Forschung zu konsultieren.
David Ganz